Das Valdai-Treffen: Wo Westasien auf Multipolarität trifft
Auf dem Treffen des russischen Valdai-Clubs - der Antwort des Ostens auf Davos - trafen sich Intellektuelle und einflussreiche Persönlichkeiten, um die aktuellen und künftigen Entwicklungen in Westasien zu erörtern.
Von
Pepe Escobar
März 04 2023
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Bildnachweis: The Cradle
Die 12. "Nahost-Konferenz" im Valdai-Club in Moskau bot eine mehr als willkommene Fülle von Ansichten über die miteinander verknüpften Probleme und Schwierigkeiten der Region. Doch zunächst ein wichtiges Wort zur Terminologie - wie nur einer der Valdai-Gäste sich die Mühe machte, zu betonen. Dies ist nicht der "Nahe Osten" - ein reduktionistischer, orientalistischer Begriff, den sich die alten Kolonialherren ausgedacht haben: Wir bei The Cradle betonen, dass die Region korrekt als Westasien bezeichnet werden muss.
Der offizielle Valdai-Bericht "The Middle East and The Future of Polycentric World" hat einige der Schwierigkeiten und Probleme der Region aufgezeigt. Aber auch das intellektuelle und politische Gewicht der Anwesenden kann wertvolle anekdotische Einblicke liefern. Im Folgenden werden einige der wichtigsten Aspekte, die die Teilnehmer zu den aktuellen und künftigen regionalen Entwicklungen ansprachen, erläutert:
Der stellvertretende russische Außenminister Michail Bogdanow betonte einleitend, dass die Politik des Kremls die Bildung eines "integrativen regionalen Sicherheitssystems" fördere. Das ist genau das, was die Amerikaner im Dezember 2021 nicht mit den Russen diskutieren wollten und dann auf Europa und den postsowjetischen Raum anwendeten. Das Ergebnis war ein Stellvertreterkrieg.
Kayhan Barzegar von der Islamic Azad University in Iran nannte zwei wichtige strategische Entwicklungen, die Westasien betreffen: einen möglichen Rückzug der USA und eine Botschaft an die regionalen Verbündeten: "Ihr könnt nicht auf unsere Sicherheitsgarantien zählen". Jeder Vektor - von der Rivalität im Südkaukasus bis zur Normalisierung der Beziehungen Israels zum Persischen Golf - ist dieser Logik untergeordnet, stellt Barzegar fest, und nicht wenige arabische Akteure haben endlich begriffen, dass es jetzt einen Spielraum gibt, um zwischen dem westlichen und dem nicht-westlichen Block zu wählen.
Barzegar sieht in den iranisch-russischen Beziehungen kein strategisches Bündnis, sondern einen geopolitischen und wirtschaftlichen Block, der auf Technologie und regionalen Lieferketten basiert - ein "neuer Algorithmus in der Politik" - und von Waffengeschäften bis hin zu nuklearer und energiepolitischer Zusammenarbeit reicht, angetrieben von Moskaus wiederbelebter Süd- und Ostorientierung. Und was die Beziehungen zwischen dem Iran und dem Westen angeht, so glaubt Barzegar immer noch, dass der Gemeinsame Umfassende Aktionsplan (Joint Comprehensive Plan of Action, JCPOA), das Iran-Atomabkommen, nicht tot ist. Zumindest noch nicht.
Niemand weiß, wie diese Regeln aussehen".
Der Ägypter Ramzy Ramzy, bis 2019 stellvertretender UN-Sondergesandter für Syrien, hält die Reaktivierung der Beziehungen zwischen Ägypten, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten zu Syrien für die wichtigste Neuausrichtung in der Region. Ganz zu schweigen von den Aussichten auf eine Aussöhnung zwischen Damaskus und Ankara. "Warum geschieht dies? Weil das regionale Sicherheitssystem mit der Gegenwart unzufrieden ist", erklärt Ramzy. Doch auch wenn die USA abdriften mögen, "sind weder Russland noch China bereit, eine Führungsrolle zu übernehmen", sagt er. Gleichzeitig dürfe Syrien "nicht zum Opfer von Interventionen von außen werden". Das Erdbeben hat diese Annäherungen zumindest beschleunigt".
Bouthaina Shaaban, eine Sonderberaterin des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad, ist eine bemerkenswerte Frau, feurig und offen. Ihre Anwesenheit in Valdai war geradezu elektrisierend. Sie betonte: "Seit dem US-Krieg in Vietnam haben wir verloren, was wir als freie Medien erlebt haben. Die freie Presse ist tot". Gleichzeitig habe "der koloniale Westen seine Methoden geändert", Kriege an Subunternehmer vergeben und sich auf lokale fünfte Kolumnisten verlassen. Shaaban lieferte die beste Kurzdefinition der "regelbasierten internationalen Ordnung" überhaupt: "Niemand weiß, was diese Regeln sind und was diese Ordnung ist."
Sie betonte erneut, dass in dieser Zeit der Post-Globalisierung, die regionale Blöcke hervorbringt, die üblichen westlichen Einmischer es vorziehen, nichtstaatliche Akteure einzusetzen - wie in Syrien und im Iran - und "Einheimische zu beauftragen, das zu tun, was die USA gerne tun würden." Ein entscheidendes Beispiel ist die US-Militärbasis al-Tanf, die souveränes syrisches Territorium an zwei kritischen Grenzen besetzt. Shaaban bezeichnet die Einrichtung dieses Stützpunktes als "strategisch für die USA, um die regionale Zusammenarbeit an der Kreuzung zwischen Irak, Jordanien und Syrien zu verhindern." Washington weiß sehr wohl, was es tut: Ungehinderter Handel und Transport an der syrisch-irakischen Grenze sind eine wichtige Lebensader für die syrische Wirtschaft. Shaaban erinnerte noch einmal daran, dass "alle politischen Fragen mit Palästina zusammenhängen", und brachte auch eine gesunde Portion düsteren Realismus ins Spiel: "Der Ostblock ist nicht in der Lage gewesen, dem westlichen Narrativ zu entsprechen."
Ein "zweischichtiger Stellvertreterkrieg
Cagri Erhan, Rektor der Altinbas-Universität in der Türkei, bot eine recht griffige Definition eines Hegemons an: derjenige, der die Lingua franca, die Währung, den Rechtsrahmen und die Handelswege kontrolliert. Erhan bezeichnet die derzeitige hegemoniale Situation des Westens als "zweischichtigen Stellvertreterkrieg" gegen Russland und China. Die Russen wurden von den USA als "offener Feind" definiert - eine große Bedrohung. Und wenn es um Westasien geht, herrscht immer noch Stellvertreterkrieg: "Die USA ziehen sich also nicht zurück", sagt Erhan. Washington wird immer erwägen, die Region "strategisch gegen aufstrebende Mächte" zu nutzen.
Und wie sieht es mit den außenpolitischen Prioritäten der wichtigsten westasiatischen und nordafrikanischen Akteure aus?
Der algerische Politikjournalist Akram Kharief, Herausgeber des Online-Magazins MenaDefense, fordert, Russland solle sich Algerien annähern, "das immer noch in der französischen Einflusssphäre liegt", und sich vor den Versuchen der Amerikaner hüten, Moskau als "neue imperiale Bedrohung für Afrika" darzustellen.
Professor Hasan Unal von der Maltepe-Universität in der Türkei machte deutlich, wie Ankara endlich "seine Verstrickungen im Nahen Osten [Westasien] losgeworden ist", während es sich zuvor "gegen alle gewandt hat". Mittelgroße Mächte wie die Türkei, der Iran und Saudi-Arabien treten nun auf der politischen Bühne der Region in den Vordergrund. Unal stellt fest, dass "die Türkei und die USA in keiner für Ankara wichtigen Frage einer Meinung sind". Dies erklärt sicherlich die Stärkung der türkisch-russischen Beziehungen - und ihr gegenseitiges Interesse an der Einführung "vielschichtiger Lösungen" für die Probleme der Region.
Zum einen vermittelt Russland aktiv bei der Annäherung zwischen der Türkei und Syrien. Unal bestätigte, dass der syrische und der türkische Außenminister demnächst persönlich in Moskau zusammentreffen werden, was das höchste direkte Treffen zwischen den beiden Nationen seit Beginn des Syrienkriegs darstellen wird. Und das wird den Weg für einen Dreiergipfel zwischen Assad, dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und seinem türkischen Amtskollegen Recep Tayyip Erdogan ebnen.
Man beachte, dass die großen regionalen Versöhnungen - wieder einmal - entweder in Moskau oder unter Beteiligung Moskaus stattfinden, das zu Recht als die Hauptstadt der multipolaren Welt des 21. Jahrhunderts bezeichnet wird. In Bezug auf Zypern stellt Unal fest, dass "Russland kein Interesse an einem vereinigten Staat hätte, der EU- und NATO-Gebiet wäre". Daher sei es Zeit für "kreative Ideen: So wie die Türkei ihre Syrien-Politik ändert, sollte Russland seine Zypern-Politik ändern."
Dr. Gong Jiong vom israelischen Campus der chinesischen University of International Business and Economics hatte einen eingängigen Neologismus parat: die "Koalition der Unwilligen" - und beschrieb damit, dass "fast der gesamte Globale Süden die Sanktionen gegen Russland nicht unterstützt", und ganz sicher keiner der Akteure in Westasien. Gong merkte an, dass der Handel zwischen China und Russland stark ansteigt - zum Teil als direkte Folge der westlichen Sanktionen - und dass die Amerikaner über Sanktionen gegen China zweimal nachdenken müssten. Schließlich beläuft sich der Handel zwischen Russland und China auf 200 Milliarden Dollar pro Jahr, während der Handel zwischen den USA und China satte 700 Milliarden Dollar pro Jahr beträgt.
Der Druck auf das "Neutralitätslager" wird ohnehin nicht nachlassen. Was die "schweigende Mehrheit der Welt", wie Gong sie definiert, braucht, ist "eine Allianz". Den chinesischen 12-Punkte-Friedensplan für die Ukraine bezeichnet er als "eine Reihe von Prinzipien" - Pekings Basis für ernsthafte Verhandlungen: "Dies ist der erste Schritt."
Es wird kein neues Jalta geben
Die Valdai-Debatten haben einmal mehr deutlich gemacht, dass Russland der einzige Akteur ist, der in der Lage ist, auf alle westasiatischen Akteure zuzugehen und ihnen sorgfältig und respektvoll zuzuhören.
Anwar Abdul-Hadi, Leiter der politischen Abteilung der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) und offizieller Gesandter der PLO in Damaskus, fasste die Ursachen für die derzeitige geopolitische Lage zusammen: "Ein neues Jalta oder ein neuer Weltkrieg? Sie [der Westen] haben sich für den Krieg entschieden."
Und dennoch, während sich immer neue geopolitische und geoökonomische Verwerfungslinien herausbilden, scheint es, als ob Westasien etwas "Großes" vor sich sieht. Dieses Gefühl war auf der Valdai-Konferenz deutlich zu spüren.
Um Yeats zu paraphrasieren und ihn auf das junge, turbulente 21. Jahrhundert zu übertragen: "Welches raue Biest, dessen Stunde endlich gekommen ist, schleicht sich an die Wiege [der Zivilisation], um geboren zu werden?
Die Bühne ist bereitet für den hybriden Weltkrieg III
35332 Ansichten 27. Februar 2023
Pepe Escobar für den Saker-Blog
Ein starkes Gefühl durchströmt Ihre Haut und Ihre Seele, während Sie in einen langen Spaziergang unter anhaltendem Schneegestöber eintauchen, der von ausgewählten Stopps und aufschlussreichen Gesprächen geprägt ist, die ein Jahr nach dem Beginn der beschleunigten Phase des Stellvertreterkriegs zwischen den USA/NATO und Russland disparate Vektoren herauskristallisieren.
So empfängt Sie Moskau: die unbestrittene Hauptstadt der multipolaren Welt des 21. Jahrhunderts. In einer langen Meditation wird uns bewusst, wie sehr die Rede - oder besser gesagt die zivilisatorische Rede - von Präsident Putin in der vergangenen Woche die Abgrenzung der zivilisatorischen roten Linien, mit denen wir alle konfrontiert sind, verändert hat. Sie wirkte wie ein mächtiger Bohrer, der das weniger als kurze, eigentlich gar keine Kurzzeitgedächtnis des kollektiven Westens perforierte. Kein Wunder, dass es einen ernüchternden Kontrast zur ununterbrochenen Russophobie im NATO-Raum bildete.
Alexey Dobrinin, Direktor der Abteilung für außenpolitische Planung des russischen Außenministeriums, hat die Rede Putins treffend beschrieben und Putins Rede als "eine methodische Grundlage für das Verständnis, die Beschreibung und den Aufbau von Multipolarität" bezeichnet.
Seit Jahren haben einige von uns aufgezeigt, wie die entstehende multipolare Welt definiert ist - aber weit darüber hinausgeht - durch Hochgeschwindigkeitsverflechtung, physisch und geoökonomisch. Jetzt, da wir die nächste Stufe erreichen, scheint es, als ob Putin und Xi Jinping, jeder auf seine Weise, die beiden wichtigsten zivilisatorischen Vektoren der Multipolarität konzipieren. Das ist die tiefere Bedeutung der umfassenden strategischen Partnerschaft zwischen Russland und China, die für das bloße Auge unsichtbar ist.
Metaphorisch gesprochen spricht es auch Bände, dass Russlands Schwenk nach Osten, hin zur aufgehenden Sonne, nun unumkehrbar, der einzig logische Weg war, den es zu beschreiten galt, da, um Dylan zu zitieren, im Westen die Dunkelheit zur Mittagsstunde anbricht.
Wie es aussieht, hat China etwas mehr Spielraum als Russland, da das Reich der Mitte - noch - nicht unter demselben existenziellen Druck steht wie Russland, da der wankende, zerfledderte Hegemon in seiner eigenen vorgefertigten Benommenheit versunken ist und die wahren Betreiber der Show brennendes Fleisch an unverbesserlich mittelmäßige politische "Eliten" verfüttern.
Was auch immer geopolitisch als Nächstes passiert, Russland ist im Grunde ein - riesiges - Hindernis auf dem kriegstreiberischen Weg des Hegemons: Das ultimative Ziel ist die größte "Bedrohung" China.
Putins Fähigkeit, unsere äußerst heikle geopolitische Lage einzuschätzen - mit einer Dosis hochkonzentrierten, unverfälschten Realismus -, ist bewundernswert. Und dann setzte Außenminister Lawrow dem Ganzen noch das Sahnehäubchen auf, indem er den glücklosen US-Botschafter zu einer knallharten Abreibung aufforderte: Oh ja, dies ist ein Krieg, ein hybrider und ein anderer, und sowohl Ihre NATO-Söldner als auch Ihre Schrottgeräte sind legitime Ziele.
Dmitri Medwedew, der stellvertretende Vorsitzende des Sicherheitsrats, der seinen "unplugged"-Status mehr denn je genießt, stellte klar: "Russland riskiert, auseinandergerissen zu werden, wenn es eine militärische Sonderoperation (SMO) beendet, bevor der Sieg errungen ist."
Und die Botschaft ist umso eindringlicher, als sie den - öffentlichen - Hinweis an die chinesische Führung auf dem Zhongnahhai darstellt: Was auch immer als Nächstes geschieht, dies ist die unverrückbare offizielle Position des Kremls.
Die Chinesen stellen das Mandat des Himmels wieder her
All diese Vektoren entwickeln sich in dem Maße, wie die Auswirkungen der Bombardierung der Nord-Streams, des einzigen militärischen Angriffs - cum industrial terrorism -, der jemals gegen die EU verübt wurde, den kollektiven Westen lähmen, benommen und verwirrt zurücklassen.
Passend zu Putins Rede wählte das chinesische Außenministerium den geopolitischen/existenziellen Moment, um endlich die Handschuhe auszuziehen und mit Schwung in die US Hegemony and its Perils" (Die Hegemonie der USA und ihre Gefahren), der in den chinesischen Medien sofort ein großer Erfolg war und in ganz Ostasien mit großem Vergnügen gelesen wurde.
Diese schonungslose Aufzählung aller tödlichen Dummheiten des Hegemons über Jahrzehnte hinweg stellt einen Punkt dar, an dem es kein Zurück mehr für die chinesische Diplomatie gibt, die bisher durch Passivität, Ambivalenz, tatsächliche Zurückhaltung und extreme Höflichkeit gekennzeichnet war. Eine solche Kehrtwende ist also eine weitere stolze "Errungenschaft" der unverhohlenen Sinophobie und verlogenen Feindseligkeit amerikanischer Neocons und neoliberaler Konsorten.
Der Gelehrte Quan Le stellt fest, dass dieses Dokument als die traditionelle Form - jetzt aber mit zeitgemäßen Formulierungen versehen - angesehen werden kann, die die chinesischen Herrscher in ihrer tausendjährigen Vergangenheit verwendeten, bevor sie in den Krieg zogen.
Es handelt sich in der Tat um eine axio-epistemo-politische Proklamation, die einen ernsten Krieg rechtfertigt, was im chinesischen Universum einen von einer höheren Macht angeordneten Krieg bedeutet, der in der Lage ist, Gerechtigkeit und Harmonie in einem gestörten Universum wiederherzustellen.
Nach der Proklamation sind die Krieger in der Lage, das Wesen, das die Harmonie des Universums stört, erbarmungslos zu bekämpfen: in unserem Fall die psychostraussischen Neokonservativen und neoliberalen Konservative, die wie tollwütige Hunde von den echten amerikanischen Eliten kommandiert werden.
Natürlich gibt es im chinesischen Universum keinen Platz für "Gott" - geschweige denn für eine christliche Version; "Gott" bedeutet für die Chinesen die Trinität Schönheit-Güte-Wahrheit, zeitlose himmlische universelle Prinzipien. Der Begriff, der für einen Nicht-Chinesen am ehesten verständlich ist, ist Dao: der Weg. Der Weg zur Trinität Schönheit-Güte-Wahrheit steht also symbolisch für Schönheit-Güte-Wahrheit.
Was Peking also tat - und der kollektive Westen ist darüber völlig ahnungslos - war, eine axio-epistemo-politische Proklamation herauszugeben, die die Legitimität ihres Strebens nach Wiederherstellung der zeitlosen himmlischen universellen Prinzipien erklärt. Sie werden das Mandat des Himmels erfüllen - nichts weniger. Der Westen wird nicht wissen, was ihn getroffen hat, bis es zu spät ist.
Es war vorhersehbar, dass die Erben der chinesischen Zivilisation früher oder später genug haben würden - und in Anlehnung an Putins Analyse den aufstrebenden Hegemon offiziell als die Hauptquelle von Chaos, Ungleichheit und Krieg auf dem gesamten Planeten identifizieren würden. Ein Reich des Chaos, der Lügen und der Plünderung, kurz gesagt. Um es unverblümt und in der Sprache der Straße zu sagen: Zur Hölle mit diesem Americana-Mist, dass die Hegemonie durch "manifestes Schicksal" gerechtfertigt ist. Da wären wir also. Sie wollen einen Hybridkrieg? Wir werden den Gefallen erwidern.
Zurück zur Wolfowitz-Doktrin
Ein ehemaliger CIA-Berater hat einen ziemlich ernüchternden Bericht über einen Kieselstein auf dem steinigen Weg herausgegeben: ein mögliches Endspiel in der Ukraine, jetzt, wo sogar einige elitäre Papageien über einen "Ausweg" mit minimalem Gesichtsverlust nachdenken.
Es ist nie müßig, sich daran zu erinnern, dass im Jahr 2000, dem Jahr, in dem Wladimir Putin zum ersten Mal zum Präsidenten gewählt wurde, in der Welt vor dem 11. September 2001, der fanatische Neokonservativ Paul Wolfowitz Seite an Seite mit Zbig "Grand Chessboard" Brzezinski an einem riesigen ukrainisch-amerikanischen Symposium in Washington teilnahm, wo er ungeniert davon schwärmte, Russland zu einem Krieg mit der Ukraine zu provozieren, und sich verpflichtete, die Zerstörung Russlands zu finanzieren.
Jeder erinnert sich an die Wolfowitz-Doktrin - die im Wesentlichen eine geschmacklose, langweilige Aufbereitung von Brzezinski war: Um die dauerhafte Hegemonie der USA zu sichern, war es von größter Wichtigkeit, dem Auftauchen jedes potenziellen Konkurrenten zuvorzukommen. Jetzt haben wir zwei atomar bewaffnete, technisch versierte Konkurrenten, die durch eine umfassende strategische Partnerschaft verbunden sind.
Als ich meinen langen Spaziergang beendete und im Kreml den Helden von 1941-1945 die gebührende Ehre erwies, hatte ich das Gefühl, dass Russland ein Meister des Rätselns und China ein Meister des Paradoxen ist und dass ihre Strategen jetzt in Vollzeit daran arbeiten, wie sie den Hegemon mit allen Mitteln des hybriden Krieges zurückschlagen können. Eines ist sicher: Im Gegensatz zu den prahlerischen Amerikanern werden sie keine Durchbrüche skizzieren, bevor sie nicht in Kraft getreten sind.
Chinas Ukraine-Initiative
Das russische Fernsehen über die „letzte chinesische Warnung“
Die chinesische Friedensinitiative ist weitaus interessanter, als es der Text der 12 Punkte auf den ersten Blick zeigt.
von
27. Februar 2023 07:00 Uhr
Ich werde mich mit der chinesischen Friedensinitiative zur Ukraine noch beschäftigen, aber dass sie interessanter ist, als man auf den ersten Blick aus dem kurzen Text herauslesen kann, ist offensichtlich. Der Westen hat die Initiative abgelehnt, obwohl sie auch Forderungen, wie die Achtung der Grenzen anderer Staaten enthält. Der Grund ist, dass die chinesische Initiative nicht nur auf die Ukraine zielt.
Worum es dabei unter anderem geht, hat der China-Korrespondent des russischen Fernsehens in einem Bericht für den wöchentlichen Nachrichtenrückblick des russischen Fernsehens erklärt und ich habe seinen Bericht übersetzt.
Beginn der Übersetzung:
Washingtons schlimmster Albtraum
Am Samstag begann vor der Küste Südafrikas die aktive Phase der gemeinsamen Marineübungen von Russland, China und Südafrika. Russland ist durch die Fregatte Admiral Gorschkow vertreten, die mit Hyperschallraketen des Typs Zircon ausgerüstet ist, weshalb der Westen diesen Übungen erhöhte Aufmerksamkeit schenkt. Ein Bericht unseres Korrespondenten.
Die 12 chinesischen Initiativen zur Lösung des Ukraine-Konflikts, die Peking die ganze Woche über angekündigt hat, haben sich als eine Art letzte chinesische Warnung entpuppt: Jeder hat sie schon mehr als einmal gehört, aber Peking hat sie noch einmal wiederholt, jetzt in Form eines offiziellen Dokuments. (Anm. d. Übers.: Als „letzte chinesische Warnung“ bezeichnet man auf Russisch die wirklich allerletzte Warnung an einen Gegner)
„Das veröffentlichte Dokument spiegelt Chinas Engagement für eine friedliche Lösung in vollem Umfang wider. Und die Experten und Medien aus einigen Ländern, die Peking kritisieren, sollten darüber nachdenken, was sie zur Wiederherstellung des Friedens getan haben und wer tatsächlich an einer Beendigung der Feindseligkeiten interessiert ist und wer im Gegenteil Öl ins Feuer gießt und eine Eskalation anstrebt“, sagte Wang Wenbin, der Sprecher des chinesischen Außenministeriums.
Das westliche Lager reagierte erwartungsgemäß kühl auf die Initiative, obwohl die chinesischen Vorschläge die Achtung der Souveränität aller Seiten, einen Waffenstillstand, die Schaffung humanitärer Korridore und den Schutz der Zivilbevölkerung beinhalten. Aber auch die Ablehnung der Mentalität des Kalten Krieges sowie die Ablehnung einer Erweiterung von Militärblöcken. In der Tat hat Peking das Vorrücken der NATO an die Grenzen Russlands als einen der Gründe für den Konflikt bezeichnet, bei dem die Sicherheit der einen auf Kosten der Sicherheit der anderen erreicht wird.
„Putin applaudiert diesem Plan, wie kann er also gut sein? Ich habe nichts gesehen, was darauf hindeutet, dass der chinesische Plan irgendjemandem außer Russland nützen würde“, sagte Joe Biden.
„Die USA behaupten ständig, sie wollten den Frieden erhalten, während sie in Wirklichkeit vom Krieg profitieren. Werden sich die USA jemals schämen? In Afghanistan haben sie eine Politik des Kampfes bis zum letzten Afghanen verfolgt. Und heute wollen sie der Ukraine anbieten, bis zum letzten Ukrainer zu kämpfen?“, bemerkte Wang Wenbin.
Während seiner Europareise musste der Leiter des Außenamtes der Kommunistischen Partei Chinas seine Gegner immer wieder in die Schranken weisen. Die haben nämlich jedes Mal versucht, auch Peking zu beschuldigen, Waffen an Moskau zu liefern. Borrell erklärte dem chinesischen Diplomaten sogar, dies sei eine „rote Linie“ für die EU. Wang Yi fragte seinerseits: Warum ist Europa so besorgt über Waffenlieferungen an Russland, wenn es selbst die Ukraine grenzenlos mit Waffen beliefert?
Doch die Amerikaner machen weiter Druck. Allerdings musste selbst das Weiße Haus zugeben: Es hat nichts gegen Peking in der Hand.
Was wirklich über die chinesisch-russischen Grenze geht, ist am Kontrollpunkt Amur deutlich zu sehen: LKW mit schwerem Gerät. Eindeutig kein militärisches, sondern Bagger, Baukräne und Muldenkipper. Jeden Monat etwa 2.000 Stück. All dieses schwere Gerät ist bereits für die Lieferung nach Russland vorbereitet. Die Betriebsanleitungen sind alle auf Russisch. Tja, und das ist ein Geschenk der Chinesen: Auf jeder Maschine ist eine Karte von Russland und ein Bärengesicht abgebildet.
Moskau und Peking klammern sich mit Bärenkraft nicht nur an den Handel, zu dessen Wachstum die westlichen Sanktionen sicherlich einen großen Teil beigetragen haben. Die Zusammenarbeit betrifft alle Sphären, ständige Kontakte auf höchster Ebene helfen dabei. Wang Yis letzte Station auf seiner Europareise ist daher Moskau. Im Mittelpunkt des Gesprächs stehen die bilateralen Beziehungen, die internationalen Turbulenzen, die Ukraine-Krise und Wege zu ihrer Lösung. Der Chef der chinesischen Diplomatie macht noch einmal deutlich: China reagiert nicht auf westlichen Druck und wird weiterhin eine eigenständige Politik verfolgen. „Vor dem Hintergrund der sehr komplexen, unbeständigen internationalen Situation haben die chinesisch-russischen Beziehungen dem Druck der internationalen Gemeinschaft standgehalten und entwickeln sich sehr stetig“, so Wang Yi.
Und diese Stärkung des Bündnisses zwischen Moskau und Peking, das die Chinesen selbst als „felsenfest“ bezeichnen, ist der schlimmste Alptraum für Washington, das die Bevölkerung auf einen Zweifrontenkrieg vorbereitet. Deshalb schickt es gleichzeitig mit der militärischen Unterstützung für Kiew auch Waffen nach Taipeh, jetzt zusammen mit militärischen Ausbildern. Die USA bereiten sich darauf vor, ihre Anzahl in Taiwan auf 200 zu erhöhen. Der neue Leiter des amerikanischen parlamentarischen China-Ausschusses ist gerade von Geheimgesprächen in Taiwan zurückgekehrt.
„Wir wissen nicht mit Sicherheit, ob Xi Jinping eine Invasion Taiwans vorbereitet, wir kennen den genauen Zeitpunkt nicht. Aber wir müssen ohne Verzögerung handeln. Wir müssen Himmel und Erde in Bewegung setzen, um Taiwan bis an die Zähne zu bewaffnen, denn wir wollen nicht, dass Taiwans Zukunft so wird, wie die Gegenwart der Ukraine“, betonte Mike Gallagher, Vorsitzender des Sonderausschusses des US-Repräsentantenhauses für China.
Doch dieses „bis an die Zähne“ der Amerikaner könnte ihnen zum Verhängnis werden, erwiderte Peking und erinnerte gleichzeitig an die Gefahren eines atomaren Konflikts. „Die USA haben die so genannte ‚chinesische nukleare Bedrohung‘ nur immer wieder hochgespielt, um einen Vorwand zu finden, ihr nukleares Arsenal zu erweitern und ihre militärische Hegemonie aufrechtzuerhalten. Wir fordern die relevanten Seiten auf, die Spekulationen und den Hype zu beenden und die Rolle von Atomwaffen in der nationalen Sicherheitspolitik ernsthaft zu reduzieren“, sagte Tang Kefei, der Sprecher des chinesischen Verteidigungsministeriums.
Peking versteht: Die Amerikaner provozieren es ganz offen. Hier, im Südchinesischen Meer, verfolgt ein amerikanisches Spionageflugzeug demonstrativ den chinesischen Zerstörer Changsha. Dass die Amerikaner auf eine chinesische Reaktion warteten und eine Provokation planten, ist auch deshalb offensichtlich, weil sie extra ein NBC-Kamerateam an Bord des Spionageflugzeugs gebracht hatten. Nun, die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. China schickte ein Kampfflugzeug mit Luft-Luft-Raketen, um den Aufklärer abzufangen.
Die gemeinsamen Seemanöver der USA, Japans und Südkoreas in der Nähe der koreanischen Halbinsel haben die Spannungen in der Region nur noch verstärkt. Pjöngjang reagierte sofort mit neuen Raketenstarts.
Besorgnis erregt jedoch eine ganz andere Übung von Russland, China und Südafrika, bei der die Bekämpfung von Piraterie und einer möglichen Bedrohung der Schifffahrt geübt wird. Das Auftauchen der Fregatte Admiral Gorschkow vor der afrikanischen Küste hat den Westen in Aufruhr versetzt. Russland und China wurden einmal mehr des Expansionismus bezichtigt.
Peking hatte jedoch bereits eine Antwort zu diesem Thema parat: Es veröffentlichte einen „Bericht über die amerikanische Hegemonie und ihre gefährlichen Folgen“, in dem die Chinesen alle Arten von amerikanischem Druck detailliert auflisteten: politischen, militärischen, technologischen und finanziellen. Sie haben gezählt, wie oft die USA einseitig Sanktionen verhängt haben. Wie sich herausstellte, haben sie in 20 Jahren um tausend Prozent zugenommen. Mit anderen Worten: Allein unter Trump haben die USA dreimal am Tag eine neue Sanktionskeule geschwungen.
Ende der Übersetzung
Immer mehr Piloten der israelischen Luftwaffe verweigern angesichts der geplanten Justizreform ihren Dienst.
Protest gegen geplante Justizreform: Israelische Soldaten verweigern reihenweise den Dienst
Die umstrittene Justizreform in Israel zieht zunehmend mehr Menschen auf die Straßen. Der Protest dagegen lässt auch in der neunten Woche nicht nach und hat nun auch das Militär erfasst.
Seit mehreren Wochen demonstrieren in Israel Zehntausende Menschen gegen die Regierung von Premierminister Benjamin Netanjahu und dessen Pläne, weitreichende Änderungen am israelischen Justizsystem vorzunehmen. Der Protest wird immer breiter und hat nun offenbar auch das israelische Militär erfasst, in dessen Reihen sich zunehmend Widerstand gegen die geplante Justizreform regt. Die wachsende Protestwelle in dem Land richtet sich gegen die Pläne von Justizminister Yariv Levin, die bisher unabhängige israelische Justiz weitgehend zu entmachten, indem er die Befugnisse des Obersten Gerichtshofs zur gerichtlichen Überprüfung stark einschränken und die politische Kontrolle über die Ernennung von Richtern zementieren will.
Israel verfügt über keine Verfassung. Das Fundament der politischen Ordnung in dem Land bilden stattdessen zwölf Grundgesetze. Es ist Aufgabe des Obersten Gerichts in Jerusalem, Gesetzesvorhaben zu verhindern, die dem Geist dieser Gesetze widersprechen. Somit ist es die wichtigste Kontrollinstanz der Exekutive und sorgt für ein Gleichgewicht der Gewalten. Vor allem Netanjahus konservativer Likud-Partei ist der Oberste Gerichtshof deshalb ein Dorn im Auge. Hat er doch ihre Gesetze, welche etwa die Rechte von Minderheiten einschränken würden, wiederholt gekippt. Israels Regierung, in der mehrere vorbestrafte Minister sitzen – Netanjahu selbst muss sich aktuell wegen Korruption vor Gericht verantworten –, will daher den Obersten Gerichtshof entmachten.
Gemäß den Plänen von Justizminister Levin, die von Gegnern auch als "Justizputsch" bezeichnet werden, soll das Parlament Entscheidungen des Gerichts künftig mit einfacher Mehrheit überstimmen können. Sollte die Gesetzesinitiative tatsächlich beschlossen werden, könnte die Regierung etwa entscheiden, Netanjahu Immunität zu gewähren und den Korruptionsprozess gegen ihn zu stoppen. Das Oberste Gericht könnte dies zwar dann weiterhin für ungültig erklären, allerdings wäre das Urteil für das Parlament nicht mehr bindend. Die Oberste Richterin am Gerichtshof warnte daher wiederholt davor, dass die Verabschiedung des umstrittenen Gesetzespakets dem demokratischen Charakter des Landes einen "fatalen Schlag" versetzen und der Regierungskoalition zugleich nahezu unbegrenzte Macht verleihen würde.
Kritiker der Pläne, zu denen hochrangige derzeitige und ehemalige Justizbeamte sowie Netanjahus politische Rivalen gehören, bemängeln, Levins Reformen würden grundlegende Bürger- und Minderheitenrechte gefährden, da die Befugnis des obersten Gerichts, Gesetze und Regierungsbeschlüsse zu kippen, nahezu aufgehoben würde und die Regierungsmehrheit die Kontrolle über die Ernennung von Richtern bekäme. Das bedeutet, dass die Justiz nicht mehr als Kontrollinstanz gegenüber der politischen Führung dienen könnte.
Soldaten verweigern Dienst
Angesichts der geplanten Justizreform haben Tausende von israelischen Soldaten und Reservisten Medienberichten zufolge nun öffentliche Erklärungen abgegeben, in denen sie ankündigen, den Dienst in der Armee zu verweigern, sollte das umstrittene Gesetz der Regierung verabschiedet werden. Eine dieser Petitionen wurde demnach bereits von mehr als 250 Reservesoldaten unterzeichnet, die alle der Spezialeinheit der Armee angehören. Darin heißt es, dass das Gesetz darauf abziele, "die Justiz zu einer politischen und nicht unabhängigen Instanz zu machen, mit anderen Worten: ein Ende der israelischen Demokratie". Eine zweite, ähnliche Ablehnungserklärung wurde von mehr als 500 Reservesoldaten unterzeichnet, die alle der "Einheit 8200" angehören, eine israelische Geheimdiensteinheit, die mit der amerikanischen NSA in Verbindung gebracht wird.
Harte Kritik an den Plänen äußerten auch Veteranen der Elite-Einheit Sajeret Matkal. In einem offenen Brief schrieben sie, Netanjahus Bruder Jonatan habe 1976 bei einem Rettungseinsatz der Einheit auf dem Flughafen Entebbe in Uganda bewusst sein eigenes Leben für den Staat und das Volk Israels geopfert. Das Team hatte damals israelische Passagiere eines entführen Air-France-Flugzeugs gerettet. "Es ist traurig, aber Du, Bibi (Spitzname Netanjahus), opferst bewusst und mit offenen Augen den Staat und das Volk Israels für Deine eigenen Interessen", hieß es in dem Brief.
Medienberichten zufolge steht inzwischen fast jede Einheit der israelischen Armee vor einer Revolte von innen. Interne Chatgruppen der Armee werden demnach von einfachen Soldaten überschwemmt, die erklären, dass sie den Dienst verweigern werden, wenn der "Justizputsch" gelingen sollte. Insbesondere die Entwicklung innerhalb der Luftwaffe – eine der angesehensten Abteilungen der israelischen Armee – soll der israelischen Militärführung Berichten zufolge besondere Sorge bereiten.
In einer Nachricht in einer internen WhatsApp-Gruppe der Luftwaffe kündigte ein Pilot laut eines Berichts des israelischen Nachrichtenmagazins Haaretz beispielsweise an, dass er den einen Tag in der Woche, an dem er normalerweise als Reservesoldat dienen müsse, nun stattdessen dafür nutzen wolle, um gegen die Regierung zu demonstrieren. Ein anderer Verweigerer freute sich in den dem Nachrichtenmagazin vorliegenden Chats darüber, dass die Fähigkeit der Armee, Sicherheitsbedrohungen zu begegnen, "ohne Zweifel beschädigt wird", sollte das Gesetz tatsächlich beschlossen werden. Er betonte, dass "es ganze Einheiten gibt, vor allem im Geheimdienstbereich, aber auch im Technologiebereich, die das ganze Jahr über vom Reservedienst abhängig sind."
Nahezu alle Israelis werden im Alter von 18 Jahren zur Armee eingezogen, wobei Männer in der Regel 32 Monate und Frauen 24 Monate lang dienen müssen. Bemerkenswert ist jedoch, dass fast alle, die an der aktuellen Verweigerungswelle teilnehmen, Reservesoldaten sind – ältere Israelis, die entweder einen Monat pro Jahr oder einen Tag pro Woche über viele Jahre hinweg in der Armee dienen. Diese Reservesoldaten werden normalerweise zur regulären Ausbildung einberufen und in Kriegszeiten in großer Zahl rekrutiert. Aber auch im Alltag ist die Armee auf diese Reservisten angewiesen, vor allem in Bereichen, die eine längere Ausbildung und technisches Wissen erfordern, wie der Nachrichtendienst und die Luftwaffe. Ohne sie ist die Armee also nicht vollends einsatzbereit.
Erst am Sonntag hatten fast alle Reservepiloten des Geschwaders 69, einer der Eliteeinheiten der israelischen Luftwaffe, gegenüber ihren Kommandeuren erklärt, dass auch sie den Dienst verweigern würden, sollte die Justizreform umgesetzt werden. Or Heler, ein Militärkorrespondent des israelischen Nachrichtensenders Channel 13, der die aktuellen Entwicklungen aufmerksam verfolgt, warnte in diesem Zusammenhang etwa, dass diese historische Revolte die israelische Armee in eine "noch nie dagewesene Krise" stürzen könnte. Eine Sorge, die sich angesichts der jüngsten Entwicklungen nun offenbar auch innerhalb der Führungsebene des israelischen Militärs ausbreitet, wie israelische Medien am Sonntag einstimmig berichteten.
"Der Generalstabschef ist sehr besorgt und hat deshalb Gespräche mit dem Premierminister aufgenommen", erklärte der Sprecher für militärische Angelegenheiten, Nir Dvori, gegenüber den Medien. Doch was war passiert? 37 der 40 Kampfpiloten des Jagdgeschwaders 69 hatten sich vergangene Woche laut Medienberichten geweigert, ihr Reservetraining anzutreten. Sie wollten stattdessen vor Regierungseinrichtungen gegen die Reform demonstrieren. Auch Reservisten anderer Einheiten drohten, den Dienst zu verweigern, sollte der Vorstoß der Regierung von Netanjahu umgesetzt werden.
"Wir stehen vor schweren und komplexen Herausforderungen", gestand Israels Verteidigungsminister Jo'aw Gallant am Sonntagabend ein. "Aufrufe zum Ungehorsam schaden der Fähigkeit des israelischen Militärs, zu funktionieren und seine Aufgaben zu erfüllen." Gallants Äußerungen folgten israelischen Medienberichten, wonach der Verteidigungsminister in den vergangenen Tagen mit dem Generalstabschef, Herzi Halewi, gesprochen habe, um die drohende Ungehorsamkeit aus Protest gegen die vorgeschlagene Justizreform und die möglichen Auswirkungen der Proteste auf die Funktionsfähigkeit des Militärs zu erörtern.
Der Vorsitzende der Nationalen Einheitspartei Benny Gantz distanzierte sich von den Aufrufen zur Dienstverweigerung und forderte die Reservisten auf, "weiter zu dienen und zu erscheinen, egal was passiert". "Ihr müsst dieses Land verteidigen, in Protesten und im Dienst", forderte er während einer Fraktionssitzung. "Helfen Sie nicht bei Ungehorsam." Gantz’ Fraktionskollege Gadi Eisenkot griff dessen Worte später am Sonntag auf und forderte die Soldaten ebenso dazu auf, sich wieder zum Training zu melden. "Die einzige Aufgabe der Reserveeinheiten besteht darin, die Existenz des Staates Israel zu sichern", schrieb Eisenkot auf Facebook. "Es gibt kein Israel ohne die Reserve. Wir müssen sie aus diesem wichtigen und gerechten Kampf heraushalten."
Die Ankündigung der Reservisten der Luftwaffe folgte auf eine Ankündigung von Reservisten der Eliteeinheit 8200 des Geheimdienstes in der vergangenen Woche, wonach sie protestieren würden, indem sie einige Aspekte ihres Reservistendienstes nicht erfüllten. So gab es zwar Befürchtungen, dass sich dies sogar auf die Einsatzbereitschaft dieser Einheiten auswirken könnte. Als Reaktion auf die Bedenken versicherten die streikenden Reservisten jedoch, wie gewohnt reagieren zu wollen, sollten sie zu tatsächlichen Einsätzen gerufen werden. "Die Piloten des 69. Geschwaders werden weiterhin dem jüdischen und demokratischen Israel dienen, auch jenseits der Grenzen des Feindes, zu jeder Zeit", erklärte Oberstleutnant "N" vom 69. Geschwader am Sonntag gegenüber Medien. Er betonte jedoch:
"Wie bei anderen bedeutenden Ereignissen, die die Piloten betreffen und einen Dialog erfordern, haben wir uns entschlossen, die planmäßige Ausbildung für einen Tag zu unterbrechen, um über die beunruhigenden Prozesse zu sprechen, die der Staat erlebt."
Von den Auswirkungen der Protestaktionen ist derweil jedoch nicht mehr nur das Militär, sondern auch Netanjahu selbst betroffen. Am Sonntagnachmittag berichteten Medien, dass sich keiner der für dessen Regierungsflüge zuständigen El Al-Piloten bereit erklärt hatte, Netanjahu und seine Frau Sara zu einem offiziellen Besuch nach Italien zu fliegen. Das Büro des Ministerpräsidenten kündigte daraufhin an, Anfragen an andere israelische Fluggesellschaften stellen zu wollen. Den Berichten zufolge weigerten sich die Piloten das Paar zu fliegen, weil auch sie gegen den Plan der Koalition zur Überarbeitung des Justizwesens sind.
Großes entsteht im Kleinen
Die neue Verweigerungswelle findet im Rahmen einer breit angelegten Kampagne von Massendemonstrationen und zivilen Widerstandsaktionen gegen die Regierung in ganz Israel statt. Die Demonstranten hatten in den letzten Wochen wiederholt wichtige Autobahnen und Bahnhöfe in den größten Städten Israels blockiert und einen landesweiten Generalstreik inszeniert. Zudem finden wöchentliche Märsche statt, die jeden Samstag Hunderttausende auf die Straße ziehen.
Ebenso wichtig sind die wirtschaftlichen Maßnahmen, die unter dem Banner dieser Bewegung ergriffen wurden: Viele israelische Bürger und Unternehmen haben ihre inländischen Aktien aus Protest gegen die Reform verkauft und stattdessen ausländische Aktien gekauft. Das hat Wirkung gezeigt: Im Februar stürzte der israelische Schekel um 10 Prozent gegenüber dem Dollar ab, und viele Beobachter warnen vor weiteren wirtschaftlichen Schäden und vor Kapitalflucht.
Doch trotz der heftigen Proteste schreitet die Justizreform immer weiter voran. Daher gingen am Samstag in Tel Aviv bereits die neunte Woche in Folge Tausende gegen diese Pläne auf die Straße. Die Demonstranten skandierten im Stadtzentrum "Demokratie, Demokratie" oder "Schande", viele schwenkten israelische Flaggen. An der Demonstration nahmen laut Medienberichten rund 160.000 Menschen teil. Auch in anderen Städten des Landes, darunter Jerusalem und Karmiel, fanden Proteste statt. Kritik an der Reform gibt es auch aus großen Teilen der Justiz, von Wirtschaftsvertretern und Israels Verbündeten im Ausland.
Doch so erfolgreich die israelischen Proteste auch sein mögen. Kritiker befürchten dennoch, dass die Organisatoren ein grundlegendes Problem übersehen. Insbesondere bemängeln sie, dass viele der Einzelpersonen und Gruppen, die die derzeitige Oppositionsbewegung anführen – einschließlich der Kampagnen zur Verweigerung des Armeedienstes –, ihre Botschaften in erster Linie auf die möglichen Auswirkungen der drohenden Justizreform auf die Menschen im Land konzentrieren und das eigentliche Problem, die Korruption im Land, in ihren Kampagnen kaum beachten würden.
Dennoch ist auch diese Form der Kritik wichtig und legitim. Sowohl Strategen als auch Experten für zivile Widerstandsbewegungen betonen, dass sich erfolgreiche Kampagnen im Laufe der Geschichte häufig zunächst auf "kleinere" oder "symbolische" Forderungen konzentrierten, die dann später aber dazu beitrugen, die noch größere Ungerechtigkeit für größere Teile der Bevölkerung sichtbar zu machen. So konzentrierte sich die Kampagne der indischen Antikolonialbewegung beispielsweise zuerst auf den Kampf gegen eine britische Steuer auf die Salzproduktion – und eben nicht auf jenen gegen die gesamte Kolonialherrschaft.
Mehr zum Thema - Massenproteste in Israel gegen geplante Justizreform halten an: Ministerpräsident warnt vor Anarchie
Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen.
Russlands Geschichte
Eine Wolke trägt Regen: Der Kapitalismus wird sich Russland schnappen oder untergehen
Führt der Ukraine-Konflikt uns in den Dritten Weltkrieg? Und: Wer ist bei all dem eigentlich der Aggressor? Nicht automatisch ist es die Partei, die den ersten Schlag führt.
von Anton Gentzen
Die NATO habe sich bereits seit dem Jahr 2014 auf eine Konfrontation mit Russland vorbereitet, sagte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg auf einer Pressekonferenz auf dem Gipfeltreffen des Militärblocks in Madrid:
"Die NATO hat sich seit langem darauf vorbereitet, nicht dass wir am 24. Februar erkannt hätten, dass Russland gefährlich ist. Die Realität ist, dass wir uns seit 2014 darauf vorbereitet haben, also haben wir unsere militärische Präsenz im Osten des Bündnisses verstärkt und die NATO hat begonnen, mehr Geld in die Verteidigung zu investieren."
Stoltenberg sagt hier die Wahrheit, aber nicht die ganze Wahrheit. Einmal abgesehen davon, dass die NATO sich seit ihrer Gründung auf die Konfrontation mit Russland (seinerzeit in Gestalt der Sowjetunion) vorbereitet und überhaupt nur zu diesem Zweck gegründet wurde, datieren die westlichen Aggressionspläne gegen das Riesenland spätestens auf das Ende der Neunzigerjahre.
Um zu gedeihen, muss das Kapital expandieren. Das permanente und nicht zu zügelnde Expansionsstreben ist in seinem Genom angelegt. Das Kapital muss Rendite bringen und wachsen, sonst wird es von anderen geschluckt, sobald es schwächelt. Die Profitgier ist die Triebfeder des Kapitalismus.
Doch auf einem räumlich beschränkten Planeten gibt es keine grenzenlose Expansionsmöglichkeit. In seinen ersten Jahrhunderten schien es noch anders zu sein: Außer den heimischen Gefilden lockten die Weiten der "nicht zivilisierten" Kontinente, die erobert, kolonialisiert und entwickelt werden mussten – scheinbar unerschöpfliche Räume für die Expansion. Aber nur scheinbar. Schon am Ende des 19. Jahrhunderts war die Welt weitgehend aufgeteilt. Und es pochten inzwischen Länder, die mit der kapitalistischen Entwicklung etwas in den Rückstand geraten waren (Deutschland und Japan) auf ihren Anteil am nicht mehr ganz so großen "Weltkuchen". Der daraus erwachsende Konflikt führte zum Ersten Weltkrieg, dem wenige Jahre später aus ähnlichen Motiven der Zweite Weltkrieg folgte.
Warum der Kapitalismus 1917 noch lange nicht am Ende war (und es heute ist)
Wer im Rausch der Russischen Oktoberrevolution meinte, die natürlichen Grenzen der kapitalistischen Expansion seien bereits erreicht und das kapitalistische System in seiner Endkrise, erlag einer Illusion. Aufgeteilt worden war im 19. Jahrhundert nämlich nur der Raum durch die Kolonialmächte, die damit "ihrem" Kapital die künftigen Expansionsmöglichkeiten sicherten. Die kapitalistische Expansion selbst war weder abgeschlossen noch hatte sie so richtig begonnen. Mit wenigen Ausnahmen waren alle Kolonien der damaligen Zeit unterentwickelte Agrarländer, bitterarm und gewiss keine gesättigten Märkte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg brachen die USA – mit Unterstützung der Sowjetunion – das an den Nationalstaat gebundene überkommene Kolonialsystem auf. Das ermöglichte es dem amerikanischen Kapital, mehr oder weniger gleichberechtigt mit dem Kapital aller Länder der "goldenen Milliarde", sich auf der gesamten Weltkugel "auszutoben".
Das war die "Pax Americana": Das Kapital der "Ersten Welt" beutet – unter sich befriedet – die "Dritte Welt" aus. Die Regeln setzen die USA, die mit ihrer Militärmacht für das Funktionieren des Systems sorgen und Privilegien in Anspruch nehmen, etwa durch die Sonderstellung des Dollars als Weltreservewährung von ihren Verbündeten Kontributionen kassieren.
Daneben steht die "Zweite Welt", angeführt von der Sowjetunion, die die Ambitionen einer Weltrevolution aufgegeben hat, sich in "friedlicher Koexistenz" übt und sogar für die Stabilität des Systems sorgt: Militärisch und politisch, indem sie grundlegende Ordnungsregeln mitträgt. Ökonomisch, indem das sozialistische System die Funktion eines "externen Konsumenten" für die kapitalistische Welt übernimmt.
Ende der Siebzigerjahre war das Stabilitätspotenzial dieses Systems ausgeschöpft. Die Profitraten sanken rapide und die Lösung der "Reagonomics" – Wachstum auf Pump – konnte die Krise nur aufschieben, nicht aufheben. Effekte der digitalen Revolution waren von kurzer Dauer. Wirtschaftlich näherte sich der Kapitalismus westlicher Prägung in den 1980er Jahren seinem Scheitern und jähen Ende.
Der Zerfall der Sowjetunion war daher nicht nur im militärischen und politischen Sinn ein unverhoffter Glücksfall für "die goldene Milliarde". Es ist nahezu unmöglich, den wirtschaftlichen Preis, den die ehemalige "Zweite Welt" der Ersten zahlte, exakt zu berechnen. Allein die legalen Kapitalausfuhren aus Russland in Form von Dividenden, direkten Profiten und Handelserlösen schwankten in den letzten dreißig Jahren zwischen 20 und 80 Milliarden Dollar jährlich. Hinzu kommt illegal ausgeführtes Vermögen, dessen Bestand allein in Großbritannien auf über 200 Milliarden Dollar geschätzt wird. Und schließlich sind da noch die "klassischen" Instrumente postkolonialer Ausbeutung, die nach 1991 auch auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion zum Einsatz kamen: der Handel in Dollar, die Inflation des Dollars, die zu niedrigen Preise auf die gehandelten Ressourcen, sonstige künstliche Disbalancen.
Um die genaue Umrechnung der den ehemals sowjetischen Völkern geraubten Werte in Euro oder Dollar werden sich Habilitationsschriften zu kümmern haben. Dass sie den entscheidenden Beitrag zum relativen Wohlstand der letzten zwei Jahrzehnte in Europa und Nordamerika leisteten, ist offensichtlich.
Nachdem die Profite aus dem Zerfall der Sowjetunion verdaut waren, sollte der Zerfall Russlands dem westlichen Kapital den unmittelbaren Zugriff auf die russischen Ressourcen ermöglichen. Die Rohstoffkosten sollten auf die reinen Arbeitskosten der Förderung und des Transports gedrückt werden, um dem westlichen Kapitalismus einige weitere Jahrzehnte gedeihlicher Existenz zu sichern. Russland lag bereits auf dem Präsentierteller und die Messer für seine Zerteilung waren gewetzt.
Der letzte Expansionsraum
Exakt in diesem Moment kam Putin. Er war und ist der Ausdruck des Überlebenswillens der russischen Bourgeoisie, die sich und das, was sie selbst auszubeuten gedenkt, nicht verspeisen lassen will. Diese Fraktion des russischen Kapitals – nennen wir sie die nationale – gewann in den internen Kämpfen und Russland rettete sich praktisch in letzter Minute.
Die Pläne des Westens waren damit natürlich nicht ad acta gelegt. Schon die so gut wie auf null gesunkenen Profitraten verbaten jede Kompromisslösung. Aus westlicher Sicht musste Russland besiegt, zerteilt und verspeist werden. Und so kam die Ukraine, etwa im Jahr 2004, als antirussisches Instrument ins Spiel.
Paradox dabei ist, dass der Westen das eigene Instrument beinahe selbst verspeist hätte: So drängend wurden die ökonomischen Probleme in der EU inzwischen, dass das gewohnte Lebensniveau der Masse der Europäer ohne kurzfristig aufzutreibendes zusätzliches Raubgut nicht mehr zu halten war. Das erklärt, warum die EU sich mit ihrem einseitig vorteilhaften Assoziierungsabkommen im Jahr 2013 gleich einem hungrigen Vampir auf die Ukraine stürzte. Warum sie unter Zurückstellung allen Anstandes und aller diplomatischen Formalitäten das Abkommen mittels eines faschistischen Staatsstreiches durchsetzte. Auch die Illusion, über die ukrainischen Zugänge zum russischen Markt sich diesen zu unterwerfen, hat eine Rolle gespielt. Dem hat Russland jedoch im Jahr 2013 – kurz vor dem Maidan – einen Riegel vorgeschoben, indem es demonstrierte, dass die Ukraine aus den postsowjetischen Märkten schneller fliegen kann, als die Tinte der Unterschriften auf dem Euroassoziierungsabkommen trocknet.
Damit erst geriet die EU in einen unauflösbaren Widerspruch zu den Plänen der Falken. Darum das berühmte "F**k the EU". Die Zeit der Handelskriege und der diplomatischen Spitzfindigkeiten war endgültig vorbei, die Weltkriegspläne lagen von nun an auf dem Tisch. Es benötigte nur noch etwas Zeit, die Widerspenstigeren der Europäer durch treuere Marionetten zu ersetzen.
Jean Jaurés (undatiertes Archivfoto) AFP
Hatte der Kreml dies alles sofort durchschaut? Es sieht nicht danach aus. Russland setzte aus einer gestärkten Position heraus auf Kooperation und Kompromiss, bot sich als Helfer an, übertrieb es nicht mit dem Preis. Sogar dann, wenn scheinbar starke Worte markiert wurden (man erinnere sich an Putins Münchner Rede), blieb die Hand ausgestreckt. Der Westen wiederum täuschte, beschwatzte die russische Elite und trickste sie aus.
Es ist eine unabwendbare Gesetzmäßigkeit der historischen Entwicklung, dass der westliche Kapitalismus in seinem Überlebenskampf versuchen muss, Russland zu überfallen. Dem Versuch, die Ukraine die Drecksarbeit erledigen zu lassen, kam Russland im Februar mit seiner "Sonderoperation" zuvor, buchstäblich in letzter Minute, mit dem Rücken an die Wand gedrückt. Putin hatte sich sieben Jahre lang um diese Entscheidung gedrückt, dass er sie dennoch traf, zeigt, wie unausweichlich sie inzwischen geworden war.
Die Westmächte müssen jetzt doch selbst zur Tat schreiten.
Was schreckt den durstigen Vampir?
Doch was ist mit den Abschreckungsmechanismen, die im Atomzeitalter einen Krieg zwischen Nuklearmächten praktisch ausgeschlossen haben? Im Zeitalter der Vernunft vielleicht, dieses ist vorbei.
Leider hat der bisherige Verlauf der "Sonderoperation" keine überzeugend abschreckende Wirkung auf die Aggressoren aus dem Westen. Die russischen Streitkräfte sind zwar kein Papiertiger, haben sich aber auch nicht als eine Macht präsentiert, die es mit der gesamten NATO aufnehmen kann. Das langsame Vorrücken, die zwischenzeitlichen Rückzüge, die unabhängig von allen Erklärungen als Zeichen der Schwäche wahrgenommen werden, die Unfähigkeit auch im fünften Monat der "Sonderoperation" den täglichen Artilleriebeschuss von Donezk und anderen Städten des Donbass zu unterbinden. Wer kann es vor diesem Hintergrund den westlichen Militäranalytikern verübeln, dass sie die russische Armee immer weniger für unbesiegbar halten?
Darum richtet sich das derzeitige Handeln der USA und ihrer Allianz darauf, die Ukraine so weit zu stärken, dass sie die russischen Streitkräfte maximal erschöpft, während das westliche Bündnis gleichzeitig Kräfte an den russischen Grenzen anhäuft, die Produktion der neuesten Waffen erhöht und das Personal seiner Streitkräfte aufstockt. Das alles sind unübersehbare Kriegsvorbereitungen.
Gleichzeitig schließen die westlichen Strategen nicht einmal die Möglichkeit aus, dass Russland im Ernstfall Atomwaffen einsetzen wird, aber sie fürchten sich nicht davor. Aus unbekannten Gründen rechnet man nur mit dem Einsatz taktischer Waffen, an einen Einsatz des gesamten strategischen Waffenarsenals durch Russland glauben die Entscheidungsträger im Westen nicht. Ein beschränkter russischer Atomwaffeneinsatz könnte sogar Teil des Kriegsszenarios sein: Nach einem solchen, medial in bekannter Art begleitet, wird sich kaum ein Europäer noch gegen den militärischen Angriff auf Russland aussprechen. Und konventionell, da sind sich fast alle einig, kann die NATO nicht verlieren.
das sehen die militär-analisten die ich in diesem NL publiziere umgekehrt..
Kurzum, der Westen ist überzeugt, dass er dieses Mal gewinnen wird. Die USA und ihre europäischen Satelliten bringen große Opfer und gehen sogar so weit, ihre eigene Bevölkerung vorübergehend gegen sich aufzubringen – allerdings in der Erwartung, dass sich der Erfolg auszahlen wird.
Irrationalität oder Berechnung eines Verzweifelten?
Dafür, dass die Würfel gefallen und die Weichen auf Krieg gestellt sind, sprechen Indizien. Um einige zu nennen, wäre da unter anderem der vorauseilende Gehorsam, mit dem das westliche Kapital die Flucht aus Russland angetreten hat, ohne Rücksicht auf Verluste, offenbar ohne Bedauern um die zurückgelassenen Werte. Das ist für das profitorientierte Kapital doch ein außergewöhnliches Verhalten. Warum geben internationale Konzerne einen lukrativen Markt, in dessen Eroberung sie drei Jahrzehnte lang investierten, ohne echten Druck auf? Rechnen die Vorstände dieser Konzerne damit, ohnehin alle Aktiva in Russland zu verlieren, oder wurde ihnen eine lukrativere Kompensation zugesagt?
Ähnlich der völlig irrationale und präzedenzlose Sanktionskrieg, den die Regierungen des Westens – weniger gegen Russland, als gegen die eigene Bevölkerung – führen. Sicherlich, das Covid-Experiment hat die Macht der Propaganda eindrucksvoll bewiesen: Von einem zustimmenden Medienchor begleitet, ist eine erschreckend große Mehrheit des Volkes nicht nur bereit, Einschränkungen der gewohnten Lebensart hinzunehmen, die in keinem Bezug zum eigenen Erleben und der eigenen Lebenserfahrung stehen, sondern sie setzt sich auch noch emotional und engagiert für die eigene Unfreiheit ein.
Doch so mächtig Polittechnologien und Gehirnwäschemethoden auch sein mögen, ihre Wirkung ist niemals langfristig. Früher oder später siegt der sprichwörtliche Kühlschrank über den sprichwörtlichen Fernseher. Das wissen auch die Eliten. Sie haben also offensichtlich die Hoffnung, in der überschaubaren Zeit, in der der Unmut der eigenen Bevölkerung noch kontrollierbar bleibt, zum Erfolg zu kommen. Zum Erfolg und zu dessen Früchten, von denen ein paar Krümel auch wieder für den darbenden Normalverbraucher abfallen werden. Schließlich ist Nord Stream 2 gebaut und kann auch dem Transport des geraubten russischen Gases dienen.
Zugegeben, mit dieser Prognose gehöre ich einer Minderheit an. Doch die gesamte Logik der kapitalistischen Entwicklung läuft auf Krieg hinaus. Die wenigen, die kurz vor dem Ersten Weltkrieg gegen denselben protestierten, wurden bekanntlich noch wegen "groben Unfugs" verhaftet.
Damals gab es diesen Protest wenigstens noch und einer der Führer der französischen Sozialisten, Jean Jaurès, musste zunächst ermordet werden, bevor das Massenschlachten beginnen konnte. Heute gibt es nicht einmal mehr jemanden wie Jaurès, der sich vor den rollenden Zug der Kriegsvorbereitungen stellt und aufbegehrt: "Nur über meine Leiche."
Jean Jaurès war es auch, der damals den Satz sagte: "Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen." Er behielt damit Recht und ich sehe nicht, warum es heute anders sein sollte. Der Kapitalismus wird Russland angreifen müssen. Meine Hoffnung ist eine andere und so erlaube ich mir den Titel dieses Artikels etwas abzuwandeln: Der Kapitalismus wird Russland angreifen und er wird dabei untergehen.
Mehr zum Thema – Das Recht und der Krieg
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Ausländische-Agenten-Gesetz
Entlarvende Aufregung im Westen über georgischen Gesetzentwurf
In Georgien wurde ein Gesetzentwurf über "Ausländische Agenten" ins Parlament eingebracht, der im Westen für Aufregung sorgt. Wovor der Westen Angst hat und warum die Aufregung entlarvend ist, werde ich hier aufzeigen.
von
1. März 2023 04:00 Uhr
Georgien ist ein Land, das seit der sogenannten „Rosenrevolution“ von 2003, einer der ersten Farbrevolutionen, eine pro-westliche Linie verfolgt. Das Land möchte in die EU und in die NATO eintreten und hat nach dem vom damaligen georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili angezettelten Kaukasuskrieg mit Russland keine diplomatischen Beziehungen mehr zu Russland. Da die westlichen Medien über den Kaukasuskrieg bis heute Unwahrheiten verbreiten, die der Untersuchungsbericht des Europarates von 2009 längst widerlegt hat, erfahren Sie bei Interesse hier die Hintergründe des Kaukasuskrieges, falls Sie sie noch nicht kennen.
In Georgien wurde nun ein Gesetz über „Ausländische Agenten“ ins Parlament eingebracht, was im Westen für Aufregung gesorgt hat. Angeblich würde das Gesetz, das aus dem Ausland finanzierte Organisationen, die am politischen Prozess in Georgien teilnehmen, zwingen soll, dem Staat gegenüber ihre Finanzen offenlegen, „die unabhängigen Stimmen der georgischen Bürger zum Schweigen bringen“. Das zeigt schon, wie verlogen die Kritik aus dem Westeb ist, denn bei dem Gesetz geht es ja nicht um die „Stimmen georgischer Bürger“, sondern um die nicht-georgischen „Stimmen“ von aus dem Ausland finanzierten Organisationen.
Da die Staaten des Westens über ihre ungezählten NGOs politischen Einfluss in fast allen Ländern der Welt ausüben wollen, kann man verstehen, warum der Westen – vor allem die USA – das georgische Gesetz kritisieren: Sie haben Angst, dass ihr Einfluss auf die Politik und die öffentliche Meinung in Georgien zurückgehen könnte. Wie groß die Angst ist, sieht man daran, dass es keineswegs sicher ist, dass das Gesetz eine Mehrheit bekommt und daran, dass die georgische Präsidentin ihr Veto gegen das Gesetz angekündigt hat, sollte es doch durch das Parlament kommen.
Ich werde zunächst aufzeigen, was es mit Gesetzen über „Ausländische Agenten“ auf sich hat, denn bekanntlich wird auch Russland vom Westen heftig dafür kritisiert, ein solches Gesetz erlassen zu haben. Danach gehe ich auf das Gesetz ein, das in Georgien nun im Gespräch ist.
Gesetze über ausländische Agenten
Das von den westlichen Medien so heftig kritisierte russische Gesetz über ausländische Agenten ist keine russische Erfindung. In den USA gibt es bereits seit 1938 das FARA-Gesetz (Foreign Agents Registration Act). Es soll ausländische Einmischungen in die Politik der USA verhindern. Nach dem Gesetz drohen jedem, der in den USA mit ausländischer Finanzierung politisch tätig wird und sich nicht als „ausländischer Agent“ registriert, Geld und/oder Gefängnisstrafen. Außerdem müssen „ausländische Agenten“ ihre Veröffentlichungen als vom „ausländischen Agenten“ stammend kennzeichnen.
Das FARA-Gesetz wird in den USA sehr restriktiv angewendet. Die damalige russische Studentin Maria Butina zum Beispiel wurde in den USA 2018 aufgrund dieses Gesetze zu 18 Monaten Haft verurteilt. Ihr Vergehen bestand darin, als Waffennärrin Kontakte zur US-Waffenlobby geknüpft zu haben. Dass sie mit einigen US-Waffenlobbyisten gesprochen hat, reichte schon aus, um zu über einem Jahr Gefängnis verurteilt zu werden.
Russland hat das FARA-Gesetz der USA im Grunde nur abgeschrieben, wobei jedoch die Strafen in der russischen Kopie dieses US-Gesetzes weniger streng sind. An dem FARA-Gesetz der USA hatten und haben die deutschen „Qualitätsmedien“ nichts zu kritisieren. Sie teilen ihren deutschen Lesern nicht einmal mit, dass es in den USA so ein Gesetz gibt, das sehr streng angewendet wird.
Dass die EU nun ebenfalls ein solches Gesetz einführen will, wobei dabei von „ausländischen Einflussagenten“ gesprochen wird, haben die deutschen Medien auch nicht berichtet, die Details darüber finden Sie hier.
Als Russland 2012 sein weniger strenges Gesetz eingeführt hat, war der Aufschrei im Westen groß. Angeblich will Russland damit die Zivilgesellschaft einschränken. In Wirklichkeit verpflichtet das Gesetz nur jeden, der in Russland einer politischen Tätigkeit nachgeht und aus dem Ausland finanziert wird, seine Finanzen offenzulegen. Außerdem müssen Veröffentlichungen solcher Organisationen (meist sind das aus dem Westen finanzierte NGOs) als Publikationen von „ausländischen Agenten“ gekennzeichnet werden. Das sind die gleichen Regelungen, die auch in den USA gelten.
Wer sich über das russische Gesetz über „ausländische Agenten“ aufregt, der sollte sich bei den USA beschweren. Ohne ihr FARA-Gesetz und die damit verbundenen Behinderungen russischer Organisationen und Medien in den USA hätte Russland sein Gesetz nie erlassen. Russland hat mit seinem Gesetz nur auf die Einschränkungen reagiert, denen russische Organisationen und Medien in den USA unterworfen sind.
Ausländischer politischer Einfluss
Wie empfindlich der Westen selbst darauf reagiert, wenn er der Meinung ist, jemand mische sich aus dem Ausland in die Politik des Westens ein, ist allgemein bekannt, wir müssen uns nur an die inzwischen schon traditionellen (und immer unbelegten) Vorwürfe aus den USA erinnern, Russland oder andere Länder würden sich in amerikanische Wahlen einmischen.
In Berlin gibt es beispielsweise eine russische NGO, die in Deutschland politisch tätig ist. Obwohl hunderte westliche NGOs in Russland politisch tätig sind, war schon die eine russische NGO in Berlin für den Spiegel ein Grund, Russland 2020 eine „heimtückische Form der Kriegsführung“ vorzuwerfen. Man wehrt sich im Westen nach Kräften gegen ausländische Einflüsse, wenn aber andere Länder, wie zum Beispiel Russland, sich gegen ausländische Einflussnahme auf ihre Politik wehren, sprechen westliche „Qualitätsmedien“ und Politiker von Unterdrückung und Repression.
Der Westen ist sich der Möglichkeiten, die von ihm finanzierte NGOs in anderen Ländern auf Politik und öffentliche Meinung ausüben können, sehr bewusst, denn er nutzt das Instrument exzessiv. Deshalb achten die Staaten des Westens bei sich zu Hause streng darauf, dass niemand diese vom Westen erfundene Methode kopiert und in Staaten des Westens anwendet. Wenn man das weiß, wird auch verständlich, warum der Westen so aufgeregt auf die georgische Idee reagiert hat, selbst so ein Gesetz einzuführen, das den Einfluss (nicht nur) westlicher NGOs in Georgien aufdecken würde.
Nach diesen Hintergrundinformationen über Gesetze über „ausländische Agenten“ kommen wir zu der aktuellen Meldung aus Georgien, über die zum Beispiel die russische Nachrichtenagentur TASS berichtet hat, deren Meldung ich übersetzt habe.
Beginn der Übersetzung:
US-Außenministerium: Gesetz über ausländische Agenten führt Georgien von euro-atlantischer Integration weg
Ned Price,, der Sprecher des US-Außenministeriums, sagte, das von der Partei „Kraft des Volkes“ vorgeschlagene Gesetz würde „die unabhängigen Stimmen der georgischen Bürger zum Schweigen bringen“.
Die Verabschiedung des Gesetzes über ausländische Einflussagenten in Georgien könnte das Land von der euro-atlantischen Integration wegführen. Das sagte Ned Price, der Sprecher des US-Außenministeriums, am Montag bei seiner regelmäßigen Pressekonferenz.
„Wir haben Kenntnis von diesem Gesetzentwurf und sind ernsthaft besorgt über seine Auswirkungen auf die Meinungsfreiheit und die Demokratie in Georgien“, sagte er. „Wir glauben, dass ein derartiges Gesetz das Potenzial hat, die euro-atlantische Integration Georgiens zu untergraben“.
Price fügte hinzu, dass das von der georgischen sozialen Bewegung „Kraft des Volkes“ vorgeschlagene Gesetz „die unabhängigen Stimmen der georgischen Bürger zum Schweigen bringen“ würde.
Im Februar wurden im georgischen Parlament zwei Versionen des Gesetzentwurfs über ausländische Agenten registriert, die georgische und die US-amerikanische Version (die eine Übersetzung des Foreign Agents Registration Act, FARA, ist). Nach der georgischen Fassung des Gesetzentwurfs ist eine juristische Person, die zu mehr als 20 Prozent aus dem Ausland finanziert wird, als ausländischer Agent zu betrachten. Dem Dokument zufolge können auch Medien ausländische Agenten sein. Organisationen, die die Kriterien erfüllen, müssen sich beim Justizministerium als ausländische Einflussagenten registrieren lassen und eine jährliche Erklärung über ihre Finanzen abgeben, andernfalls droht ihnen eine Geldstrafe.
Der Gesetzentwurf hat sowohl bei der Opposition als auch bei Präsidentin Salome Surabischwili sowie bei westlichen Politikern erhebliche Kritik ausgelöst, weil der Begriff des ausländischen Agenten nach russischem Vorbild in die Gesetzgebung aufgenommen wurde. Dabei bestreiten die Verfasser der Idee und die Führer der Regierungspartei „Georgischer Traum“ die Ähnlichkeit mit der russischen Gesetzgebung. Ihrer Meinung nach ist das neue Gesetz für die Transparenz der Arbeit von Organisationen nötig, die von Vertretern ausländischer Staaten finanziert werden.
Ende der Übersetzung
Archivbild: Verhandlungen in Brest-Litowsk am 2. März 1918
Warum die Bolschewiki den demütigenden Friedensvertrag von Brest-Litowsk eingingen
Der Frieden von Brest war ein zutiefst erzwungener, demütigender, aber auch notwendiger Vertrag. Ein Verzicht auf diesen Vertrag hätte Russlands desolate Lage gegen Ende des Ersten Weltkriegs nicht nur weiter verschlimmert, sondern auch das Ende der Eigenständigkeit des russischen Staates zur Folge gehabt.
Von Timur Schersad
Zur Jahreswende 1917/1918 wollten fast alle in Europa Frieden. Unterschiedlich waren jedoch die Bedingungen, zu denen die Kriegsparteien bereit waren, zuzustimmen, und darin lag der Hauptgrund, weshalb der Krieg noch weiter andauerte.
England und Frankreich waren von ihrer materiellen Überlegenheit überzeugt und daher bereit, trotz Erschöpfung und sogar Aufständen in den Truppen bis zum bitteren Ende zu kämpfen. Deutschland, dessen Lage an der Front relativ günstig war, verspürte bereits die Auswirkungen der Seeblockade, durchgesetzt von der Entente, und spielte weiterhin den Tapferen, tendierte aber in Wirklichkeit zu einem Frieden zu einigermaßen guten Bedingungen für sich selbst. Und Mächte wie Russland, Österreich-Ungarn, Italien und die Türkei waren so erschöpft, dass sie im wahrsten Sinne des Wortes am Ende ihrer Kräfte waren. Sie waren sogar zu einem separaten und nicht gerade schmeichelhaften Frieden bereit.
Darüber gab es in Petrograd bereits Ende 1916 erste ernsthafte Gespräche ‒ diese wurden aber von der obersten Gewalt abgelehnt. Die Folgen des Februarputsches von 1917 schwächten die Kampfkraft von Armee und Marine erheblich. Und kurz vor der gewaltsamen Machtübernahme durch die kommunistischen Bolschewiki im Oktober war die Lage noch bedrückender. Aus zahlreichen Gründen, unter anderem aus logistischen, war das Land nicht mehr in der Lage, die Front nicht nur mit Geschossen, sondern sogar mit Lebensmitteln in der erforderlichen Menge zu versorgen.
Das Militär forderte Nachschub und sah die einzige Alternative in einer radikalen Reduzierung der Streitkräfte an der Front. Da die Sommeroffensive von 1917, bei der alle noch verbliebenen Kräfte eingesetzt wurden, gescheitert war, kam eine weitere nicht in Frage. Für Russland war jedoch Ende 1917 und Anfang 1918 selbst das bloße Aufrechterhalten der Front ein ernstes Problem. Die Deutschen nutzten den Vorteil nicht und zogen es vor, ihre Truppen an die Westfront zu verlegen, doch früher oder später hätten sie zugeschlagen ‒ und dann wäre der große Rückzug von 1915 als kleiner operativer Rückschlag erschienen.
Der Abschluss des Friedens lag sowohl im Interesse Russlands als auch Deutschlands. Russland bekam die Gelegenheit, seine Wunden zu heilen, und eine gewisse Chance, dies ohne weitere innere Unruhen zu tun. Und Deutschland konnte seine Truppen an die Westfront verlegen, um den Versuch zu unternehmen, seine Feinde zu besiegen, bevor die amerikanischen Hauptstreitkräfte nach Europa verlegt wurden, die das ausgeschiedene Russland ersetzen sollten.
Diesem, so könnte es scheinen, kam die Politik der Bolschewiki zugute, welche die Macht ergriffen ‒ Lenins Partei gelang der Coup d'État unter Friedensparolen. Dahinter steckten allerdings eher marxistische als nationale Überlegungen. Denn Frieden wollten die Bolschewiki nicht so sehr für Russland als vielmehr für die Verwirklichung ihrer Vorstellungen von einer Weltrevolution. Europa war von einem Krieg zermürbt, den es nie zuvor gekannt hatte, und ein Frieden unter der ultralinken Devise "ohne Annexionen und Kontributionen" hätte die Gesellschaften der westlichen Länder schwer erschüttern können. Kriegsmüde Nationen hätten gesehen, wie gut die ultralinken Ideen ihre Probleme lösen können, und würden ihre eigenen Regierungen stürzen, um die Erfahrungen des hypothetischen russisch-deutschen Beispiels nachzumachen.
Um dieses Kalkül jedoch in die Tat umzusetzen, musste zunächst eine Einigung mit der kaiserlichen Elite erzielt werden. Die Deutschen waren den Verhandlungen keineswegs abgeneigt, allerdings zu ihren eigenen Bedingungen und nicht zu denen der Bolschewiki. Die entsprechenden Gespräche begannen im Dezember 1917 in Brest-Litowsk, fast unmittelbar nach der Machtergreifung durch die Bolschewiki. Deutschlands Appetit wurde durch die Tatsache angeregt, dass es seinen Truppen gelungen war, beträchtlich in russische Territorien vorzudringen. Die Deutschen eroberten Riga und standen in der Nähe von Minsk. Und natürlich hegten sie keine Absichten, sich zurückzuziehen.
Gleichzeitig waren sie auf russisches Brot dringend angewiesen, um die Nahrungsmittelblockade auszugleichen. Sie waren bereit zu verhandeln. Die Bolschewiki versuchten, diesen Trumpf auszuspielen, indem sie mit den Deutschen Verhandlungen zum Frieden "ohne Annexionen und Kontributionen" führten. Anfangs versuchten sie, einen sechsmonatigen Waffenstillstand auszuhandeln. Man glaubte, dass in Europa eine revolutionäre Stimmung heranreife und man nur etwas Zeit gewinnen müsse, dann würde alles zusammenbrechen und sowjetisch werden. Diese Strategie ging allerdings nach hinten los: Anfang 1918 griff eine weitere Partei, die Delegation der ukrainischen Rada, in den Verhandlungsprozess ein. Die Macht der Rada selbst war nicht besonders stark vor Ort. Die Beteiligung an internationalen Verhandlungen als eigenständiger Staat ‒ zu diesem Zweck erklärten die Ukrainer ihre Unabhängigkeit ‒ hätte sie stärken können. Zumindest theoretisch. Jedenfalls waren die Deutschen darüber begeistert, dass eine neue politische Kraft aufgetaucht war.
Im deutschen Generalstab schätzte man damals den Zustand der russischen Truppen nicht besonders hoch ein und glaubte, dass sie den Feind an der Ostfront jederzeit besiegen würden, wenn es nötig wäre. Das Auftauchen der Ukrainer, die bereit waren, ihre Produkte unter jedem noch so hörigen Vertrag zu liefern, beraubte die Bolschewiki ihrer letzten ernsthaften Trumpfkarte.
Allerdings war das Vorhaben des roten Petrograds ein anderes. Die Bolschewiki dachten in weltpolitischen und revolutionären Dimensionen. So zogen sie die Verhandlungen in die Länge und wiesen die deutschen Bedingungen zurück. Zugleich wurde eine verstärkte Propaganda betrieben, die an die deutschen Soldaten vor Ort appellierte. Die bolschewistische Delegation nutzte jede Gelegenheit, um Deutschland von innen heraus in Brand zu setzen. Die Deutschen aber erkannten, dass man sie an der Nase herumführte, weshalb sie kurz davor waren, das Schachbrett auf den Kopf zu stellen.
Dennoch unterzeichnete die Rada am 13. Februar 1918 ihren Separatfrieden mit Deutschland, wodurch den Deutschen endgültig die Hände frei wurden. Sie stellten Petrograd ein Ultimatum: Entweder werde der gewünschte Frieden unterzeichnet, wobei der Anspruch auf Polen und das Baltikum entfällt, oder die Kanonen beginnen zu sprechen. Die Bolschewiki debattierten lange ‒ und entschieden sich für den Weg "kein Frieden, kein Krieg". Russland würde die ohnehin schon zerfledderte und unbrauchbare Armee demobilisieren, aber keine territorialen Verluste anerkennen. Es wurde angenommen, dass ein Angriff auf das demonstrativ abgerüstete Land dem deutschen Proletariat Auftrieb geben und die Revolution näher bringen würde.
Diese Annahmen gingen nach hinten los ‒ die Deutschen begannen am 18. Februar eine Offensive entlang der gesamten Front. Dabei war der Vormarsch schnell ‒ zu einer gewaltigen Revolution, die Deutschland zu Fall bringen und in ein Sowjetland verwandeln sollte, kam es jedoch nicht. Den kaiserlichen Truppen wurde praktisch kein organisierter Widerstand entgegengesetzt. In den Reihen der bolschewistischen Partei selbst gab es rege Diskussionen darüber, ob man den deutschen Friedensbedingungen zustimmen oder bis zum Ende für die ursprüngliche Idee "keine Annexionen und Kontributionen" kämpfen sollte. Lenin war übrigens ein Befürworter eines Friedensschlusses zu jeden Bedingungen. Er war der Meinung, dass die bestehende Armee aufzulösen sei und man eine neue, revolutionäre, disziplinierte ‒ also die zukünftige Rote Armee ‒ schaffen müsse. Und solange habe man sich nirgends einzumischen. Ihm gelang es aber nicht, die Mehrheit des Zentralkomitees zu gewinnen.
Die deutsche Offensive änderte alles. Die deutschen Stellungen bei Narwa, Minsk und Schitomir und der rasche Rückzug der alten Armee machte eine andere Einschätzung der Lage erforderlich. Am 23. Februar schwankte das Zentralkomitee ‒ Lenins Gegner, darunter Trotzki (Lew Bronstein), enthielten sich bei der Abstimmung über das deutsche Ultimatum. Infolgedessen erklärte sich das Sowjetrussland bereit, Frieden zu schließen. Die Bedingungen waren hart ‒ Russland verlor vier Prozent seines Territoriums und 26 Prozent seiner Bevölkerung. Dabei ging es um die am besten erschlossenen Territorien, also um diejenigen Gouvernements, die reich an Industrie und Eisenbahnlinien waren, und nicht um die sibirische Taiga. Russland verlor die Kontrolle über die baltischen Staaten, die Ukraine, Polen und Finnland. Außerdem musste Russland seine Truppen nicht nur aus dem Teil des Osmanischen Reiches abziehen, der im Ersten Weltkrieg besetzt worden war, sondern auch die Städte an die Türken abtreten, die es während des Russisch-Türkischen Krieges erworben hatte.
Die Rede war von etwa 26 Prozent des europäischen Teils Russlands, etwa 40 Prozent der gesamten Getreideernte, etwa ein Drittel der Industrie und 56 Millionen Menschen. Ein Teil dieser Gebiete musste im Nachhinein erneut "zurückerobert" werden, ein anderer Teil ging überhaupt für immer verloren.
Die Nichtannahme der Bedingungen des Friedensvertrags von Brest hätte jedoch durchaus das Ende der Eigenständigkeit des russischen Staates zur Folge gehabt. Hätten die Deutschen Petrograd erreichen wollen, so hätten sie dies getan. Dadurch hätte sich das Chaos unweigerlich vergrößert, und in der Folge wären weitere Gebiete von Russland abgefallen. Der Frieden von Brest war ein zutiefst erzwungener, demütigender, aber auch notwendiger Vertrag. Ohne diesen Vertrag hätten sich die Umstände im Jahr 1918 zum Schlechten gewandt. So konnte sich das Land von seinen Niederlagen erholen und später revanchieren.
Zuerst erschienen bei Wsgljad. Übersetzt aus dem Russischen.
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RT-Doku: Warum ist die Sowjetunion zerfallen?
Die UdSSR hörte im Jahr 1991 auf zu existieren. Was waren die sozioökonomischen und soziopolitischen Prozesse, die zum Zusammenbruch des größten Staates der Welt führten? Diese Dokumentation zeigt eine detaillierte Chronik der Ereignisse. Der Film enthält Interviews mit Politikwissenschaftlern, Journalisten und prominenten Staatsmännern.
RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.
Symbolbild. Feierlichkeiten zum 300-jährigen Jubiläum des Anschlusses der Ukraine an Russland 1954.
Wie Neurussland entstand – und sich der Fehler der kommunistischen Revolutionäre heute selbst behebt
Der Ukraine-Konflikt wurzelt auch darin, dass die Bolschewiki stark industrialisierte ursprünglich neurussische Gebiete der agrarischen Ukraine angliederten. Dazu gehörte auch der Donbass – dank ihm hat dieser historische Fehler alle Chancen auf Selbstbehebung.
von Timur Schehrsad
Eine Grenze zwischen Russland und der Türkei gab es früher gar nicht – nicht im heutigen Sinne eines schmalen Streifens, einer gedachten Linie. Es gab vielmehr ein breites Niemandsland zwischen den beiden Reichen. Die endlose Steppe konnte man sich damals ruhig als eine Art Landozean vorstellen. Zur Verteidigung taugendes Terrain gab es nicht. Gar nichts gab es, woran man sich vernünftig festhalten konnte. Aber dafür konnten von dort aus jederzeit professionelle "Raubtiere" über einen hereinbrechen, also Gruppen von berittenen Kriegern, die von Sklavenraub und Plünderung lebten.
Selbst unter der Herrschaft Iwans des Schrecklichen konnten die Krimtataren noch glaubwürdig damit drohen, zum Beispiel Moskau niederzubrennen. Größere Angriffe konnten wohl abgewehrt werden, doch auch das war mit hohem Aufwand verbunden. So zum Beispiel in der Schlacht bei Molodi im Jahr 1572, als es gelang, das Heer des Krim-Khans Dewlet des Ersten Giray in die Reichweite der Artillerie des Zaren zu locken und auszubluten. Und dies geschah, wohlgemerkt, ganz in der Nähe der russischen Hauptstadt im heutigen Gebiet Moskau, genaugenommen zwischen Tschechow und Podolsk.
Doch unter den Angriffen aus dem Süden sollte Russland nicht ewig leiden. Die Macht des Russischen Reiches wuchs, neue technische Mittel tauchten auf. Die Ära der nomadischen (oder auch nicht-nomadischen) Raubzüge ging zumindest in Europa im achtzehnten Jahrhundert zu Ende. Bewaffnet mit der Muskete, mit den fortschrittlichsten Kommunikationsmitteln dieser Zeit ausgerüstet und unterstützt von regulären Truppen, wurde sogar der wehrhafte Bauer stärker als das berittene "Raubtier".
Und deswegen wandte sich das Russische Reich zur Zeit Katharinas der Großen, als es das sprichwörtliche Fenster nach Europa bereits durchbrochen und aufgestoßen, sich an der Ostsee festgesetzt und seine Grenzen im Westen mehr oder weniger festgelegt hatte, endlich auch dem Süden zu. Das Land konnte es sich nun leisten, auch die weiten Steppen zu erobern und dort stabil Fuß zu fassen.
Nach Süden rückten nun Heere aus. Doch die unbewohnten Gebiete zu erobern, war nicht so schwierig. Nach wie vor durchaus schwierig war hingegen, sie auch zu halten. Die Infanterie des stehenden Heeres würde etwaige Plündererzüge vergleichsweise leicht besiegen und sie noch leichter hinausdrängen. Doch war man auch nur einen Augenblick lang abgelenkt, kamen die Nomadenheere zurück und würden wieder Raubzüge veranstalten. Es reichte also nicht aus, sie einfach zu besiegen, gegebenenfalls auch auf ihrem Gebiet, und sich wieder zurückzuziehen. Sehr wichtig wurde nun auch, neue Gebiete zu besiedeln.
Zu diesem Zweck ließ Katharina dort ein Regime verhängen, das am besten als Analogon der modernen Sonderwirtschaftszone zu beschreiben ist. In Noworossija, also Neurussland, wurde Land kostenlos oder zu einem symbolischen Preis abgegeben, Steuerbefreiungen wurden gewährt und lukrative Kredite vergeben. Sankt Petersburg lockte aktiv Kolonisten aus anderen Ländern in den russischen Süden. Russische Werbeagenten bereisten Europa und predigten in dessen überbevölkerten Städten rege die Umsiedlung. Dem Vorhaben kam fruchtbares Land zugute, dann noch das warme Klima und schließlich auch weitere angenehme Lebensbedingungen. Für die Sicherheit sorgten Aufgebote des Heers und der Kosaken, die in die neuen südlichen Gebiete umgesiedelt wurden.
Die neu gebildete Region umfasste die heutige Krim, die heutigen Regionen Saporoschje, Odessa, Nikolajew, Dnepropetrowsk und Cherson sowie das heutige Donezbecken. Vor der Ankunft der Russen wurden diese Gebiete nicht umsonst "Wildes Feld" genannt, doch nach einer groß angelegten Kampagne zur Anwerbung von Siedlern während der Katharinenära begannen dort schnell neue Städte zu entstehen: Cherson, Odessa, Sewastopol, Jekaterinoslaw (heute als Dnepropetrowsk bekannt) und andere.
Das eine spornte das andere an: Die Gründung der Schwarzmeerflotte führte zur Entstehung einer Schwerindustrie. Durch die Abwanderung des Adels samt seinen Bauern in neue Gebiete wuchs die Landwirtschaft. Und die kaiserlichen Truppen gewährleisteten Sicherheit für all dies. Doch diese Ruhe sollte nicht ewig herrschen. Vor Noworossia lagen, wie auch vor dem Rest Russlands, stürmische Zeiten großer Unruhen.
Der Wille des Chaos
Die Niederlage im Ersten Weltkrieg brachte Russland die beiden Revolutionen im Jahr 1917 und dann den Bürgerkrieg ein, der sich für das Land als noch verheerender erwies als der größte bewaffnete Konflikt dieser Zeit. Das politische Chaos ermöglichte es Berufsrevolutionären und Kuhdorf-Nationalisten, ihre Köpfe zu erheben. Jeder wollte mindestens so viel Souveränität, wie er tragen konnte.
Durch den Ausgang des Bürgerkriegs ging Russland Neurusslands nicht verlustig, womit Neurussland im Gegensatz zu Polen oder Finnland steht. Doch es gab Auswirkungen auf seinen Platz innerhalb der neuen Existenzform Russlands – der Sowjetunion. Die Eingliederung Noworossijas in die ukrainische Republik erfolgte nicht auf der Grundlage kultureller Ähnlichkeiten oder wirtschaftlicher Berechnungen, sondern aufgrund von Besonderheiten der marxistischen Theorie, wie sie von den damaligen Bolschewiki vertreten wurde.
Die siegreichen Roten befanden aufrichtig, dass der Weg zum Kommunismus notwendig über die Emanzipation führen müsse. Der Marxismus vertritt ferner die Auffassung, dass eine Nation verschiedene Stufen der sozio-politischen Entwicklung durchlaufen muss, um die hierfür notwendige "Reife" zu erlangen, und erst dann zum Beispiel die Lehren von Marx und Engels verstehen und umsetzen kann. Die russischen Kommunisten förderten daher aktiv den Nationalismus der kleineren Ethnien, während sie den Nationalismus der Russen selbst rücksichtslos verfolgten.
Sie dachten nämlich schlicht, dass es bei Russen in dieser Hinsicht nichts mehr sinnvollerweise zu fördern gäbe: Die Russen, so sagten sie, hätten dieses Stadium ja bereits durchlaufen und das russische Volk habe doch sogar eine erfolgreiche sozialistische Revolution geboren, was ansonsten unmöglich gewesen wäre. Sie sollen also gefälligst ein Stück aufrücken und anderen helfen, aber nicht selbst übereilig voranschreiten, sonst münde alles ja doch wieder nur in schnödem Imperialismus und Unterdrückung.
Geleitet von ihren spezifischen, aber durchaus gut gemeinten Motiven, beschleunigten die Bolschewiki künstlich die Entwicklung all derjenigen nicht-russischen Völker des ehemaligen russischen Reiches, die sie eben erreichen konnten, die Stufen der soziokulturellen Entwicklung nach Marx und Engels hinauf. Für einige setzten Akademiker eine Sprache aus einem Dutzend von Stammesdialekten zusammen, für manche anderen setzten sie aus Bestandteilen der indigenen naiven Kunst eine höhere Kultur zusammen.
Wieder andere wurden per Verwaltungsdekret mit Landgebieten beglückt, die nicht zum natürlichen Lebensraum dieser "Titular"-Bevölkerung gehören. Im Falle des Anschlusses von Noworossija an die zuvor Malorossija (Kleinrussland) genannte Ukraine durch die Bolschewiki spielte zudem der Wunsch eine Rolle, in jeder der Sowjetrepubliken über ihre Unterstützungsbasis in Form der Industriearbeiter zu verfügen. Auf diese Weise wurde auch der Donbass Teil der jungen Ukraine – eben jenes besonders fremde Element, das einhundert Jahre später die Ukraine spalten und vielleicht sogar ihr Totengräber werden sollte.
Die Gerechtigkeit wiederherstellen
Die moderne Ukraine bekam mit Neurussland eine echte Perle von Landzuwachs: Schwerindustrie, Getreide, Zugang zum Schwarzen Meer, eine vergleichsweise gebildete und an harte Arbeit gewöhnte Bevölkerung. Und all das praktisch umsonst. Natürlich kann man argumentieren, dass die Ukraine in der Vergangenheit durch die Härten des Bürgerkriegs dafür bezahlen musste. Doch "bezahlen" mussten in jenen dunklen Jahren alle – und nur wenige bekamen auch etwas.
Dreißig Jahre Unabhängigkeit nach dem Zusammenbruch der UdSSR zogen einen Schlussstrich, denn die Ukraine zeigte sich nicht fähig, über das "Geschenk" der Bolschewiki sachgerecht zu verfügen. Kiew ist es schlicht nicht gelungen, ein Gleichgewicht zwischen den heterogenen Elementen der Ukraine herzustellen. Und als die Regierungen in Kiew versuchten, die russischen Regionen zu "ukrainisieren", legten sie nicht genügend Taktgefühl und Weisheit an den Tag, dies schrittweise zu tun. Um den sprichwörtlichen Frosch auf kleinem Feuer zu kochen, fehlte Kiew die Geduld.
Und darin liegt eine historische Chance für Russland, das vor der Aufgabe steht, das Land und vor allem das verstreute russische Volk wiederzuvereinen, die rechtmäßig zusammengehören. Ein großer Teil von Noworossija wurde bereits befreit: Die Krim, größtenteils der Donbass sowie Cherson. Wenn das Glück den Truppen hold ist und wenn etwaiges konjunkturpolitisches Streben nicht überhand nimmt, heute drei Kopeken zu sparen, wo morgen nicht einmal ein Rubel hilft, dann sind bald auch Dnepropetrowsk, Nikolajew und Odessa dran. Und das muss so sein.
Mehr zum Thema – Wie sieht die Zukunft der von Russland kontrollierten Regionen der Ukraine aus?
Übersetzt aus dem Russischen. Ersterscheinung in Wsgljad.
Timur Schehrsad ist Kriegsberichterstatter, Analytiker und Kolumnist beim russischen militärisch-patriotischen Sender Swesda und beim Businessblatt Wsgljad.
RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.
Eine "sowjetische Schweiz"?
Wie Stalin die Entstehung eines transkaukasischen Staates torpedierte
Warum die vor 100 Jahren gegründete Transkaukasische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik kein lebensfähiger Staat werden konnte – und wie dies von Moskau gesteuert wurde. Welche Folgen hatte das für Georgien, Armenien und Aserbaidschan?
Von Anatoli Brusnikin
Vor genau 100 Jahren wurde die Transkaukasische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (TSFSR) gegründet und war somit eine der vier Gründungsrepubliken der UdSSR. Am 13. Dezember 1922 versuchten Georgien, Armenien und Aserbaidschan einen einheitlichen Staat zu gründen. Man könnte dies als einen Vorläufer späterer, ähnlicher Projekte betrachten, weiter westlich etwa in Jugoslawien als ein Beispiel. Jugoslawien ging mit einem langen Krieg auf dem Balkan unter. Transkaukasien hingegen lebte – auch nach dem Zusammenbruch der TSFSR – noch viele Jahre in Frieden. Wie kam es dazu und welche Rolle spielte dabei Moskau?
An der Peripherie eines Imperiums
Nach der Februarrevolution 1917 und während des Bürgerkriegs stand Transkaukasien am Rand der Aufmerksamkeit der Zentralbehörden. Das Leben ging dort wie gewohnt weiter, während das Schicksal aller Gebiete des Russischen Reiches eigentlich in Sankt Petersburg entschieden wurde. Die Provisorische Regierung, die nach der Abdankung von Nikolaus II. im Februar 1917 zusammentrat, kündigte die Einberufung eines neuen repräsentativen Organs an – der Konstituierenden Versammlung – und bekundete gleichzeitig die Absicht, den Völkern des Russischen Reiches das Recht auf Selbstbestimmung zu gewähren. Ein spezielles transkaukasisches Komitee wurde ins Leben gerufen, bestehend aus fünf Abgeordneten der Staatsduma, um die Gebiete des zaristischen kaukasischen Vizekönigreichs zu verwalten.
Das Komitee wurde von Wassili Charlamow geleitet, einem Vertreter der liberalen Partei der Kadetten. Im Komitee waren auch Vertreter der Sozialistischen Revolutionäre, der populärsten Partei des Reiches, sowie der Armenischen Revolutionären Föderation, der Aserbaidschanischen Müsavat-Partei und der Georgischen Sozialistisch-Föderalistischen Revolutionären Partei, deren Vertreter später durch ein Mitglied der in Tiflis (Tbilissi) populären Sozialistischen Partei der Menschewiki ersetzt wurde.
Diese Zusammensetzung entsprach den Kräfteverhältnissen in der Region und war für die Verwaltung und Aufrechterhaltung des Status quo während der Vorbereitungen auf die Konstituierende Versammlung geeignet, nicht jedoch für den bevorstehenden Machtkampf. Tatsache ist, dass in Transkaukasien sowie in ganz Russland sehr schnell eine Doppelherrschaft etabliert wurde. Die von der Staatsduma gebildete Provisorische Regierung genoss das Recht auf Nachfolge der Macht und übte ihre Befugnisse von der "Mitte" her aus, aber vor Ort operierten Basisräte von Abgeordneten aus Arbeitern, Bauern und Soldaten – der Erste Weltkrieg war noch im Gange.
In Transkaukasien gab es eigentlich nur zwei große Städte – zwei Hauptstädte. Das Verwaltungs- und Kulturzentrum war Tiflis in Georgien, das 150 Jahre lang ein Zentrum der zaristischen Macht gewesen war. Das Wirtschafts- und Industriezentrum war Baku in Aserbaidschan, wo seit den 1870er Jahren Öl gefördert wurde. Und während in Tiflis die Macht der Provisorischen Regierung überwog, war in Baku der örtliche Rat der Arbeiter- und Soldatendeputierten, unter Führung des charismatischen Bolschewiki Stepan Schahumjan, als einer Stadt der Arbeiterklasse wichtiger. Im Oktober 1917 führten die Bolschewiki einen Militärputsch in Petrograd durch und verkündeten die Auflösung der Provisorischen Regierung. Dann wurde anstelle des Sonderkomitees ein Transkaukasisches Kommissariat in Tiflis gebildet, wo die georgischen Sozialrevolutionäre und die Menschewiki, die Lenin und den Bolschewiki feindlich gesinnt waren, die Kontrolle behielten. Gleichzeitig wurde in Baku die Sowjetmacht errichtet und Schahumjan zum außerordentlichen Kommissar des Rates der Volkskommissare – der Zentralregierung der Bolschewiki – für den Kaukasus ernannt.
Der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare in Baku Stepan Schahumjan (1878-1918) Sputnik / Sputnik
Im Handumdrehen vom imperialen Hinterhof zur nationalen Republik
Während sich im nördlichen Kaukasus die politischen Unruhen verschärften und sich im Bürgerkrieg nach und nach rote und weiße Fronten bildeten, eskalierten die ethnischen Konflikte in Transkaukasien rasant. Mit dem faktischen Verschwinden der Zentralregierung in der Region führten zahlreiche Zänkereien zwischen Armeniern, Aserbaidschanern und Georgiern zunehmend zu Auseinandersetzungen und auch Todesopfern. Am häufigsten kam es in den umstrittenen Gebieten zwischen Armeniern und Aserbaidschanern zu bewaffneten Zusammenstößen, insbesondere in Jelisawetpol (heute: Gandscha) und Eriwan (heute: Jerewan).
Das Osmanische Reich, das in den Jahren zuvor militärische Niederlagen durch die russische Armee erlitten hatte, goss zusätzlich Öl ins Feuer. Die Türken versuchten, ihr eigenes Schicksal abzuwenden, indem sie Unruhen unter der muslimischen Bevölkerung Aserbaidschans schürten – und sie waren damit recht erfolgreich. Als einer der Anführer der georgischen Menschewiki bemerkte Akaki Tschchenkeli, dass "die bewaffnete muslimische Bevölkerung, die an der türkischen Orientierung festhält, sich türkische Soldaten nennt und die gesamte christliche Bevölkerung von Transkaukasien mit ihren anarchischen Manifestationen terrorisiert".
Nachdem die Bolschewiki, die in Petrograd die Macht ergriffen hatten, im Dezember 1917 Frieden mit der Türkei geschlossen hatten, wurde die nationale Frage weniger akut, und die transkaukasischen Politiker hatten die Möglichkeit zu entscheiden, wie das Leben in ihrem Gebiet organisiert werden sollte. Nachdem die Bolschewiki die Konstituierende Versammlung aufgelöst hatten, bildeten ihre in Transkaukasien gewählten Abgeordneten einen Transkaukasischen Sejm als eine Versammlung der Volksvertreter. Drei nationale Parteien waren darin etwa gleich stark vertreten, mit einem leichten formalen Übergewicht auf Seiten der Georgier. Es schien, als würde sich die Lage in der Region stabilisieren, aber dieses Gefühl täuschte.
Nur zwei Monate nach dem Friedensschluss mit der Türkei, als die russischen Truppen die Front im Kaukasus schon fast verlassen hatten und das noch nicht vollständig gebildete armenische Korps an ihre Stelle trat, brachen die Türken den Waffenstillstand und starteten eine groß angelegte Offensive. Die zentrale Aufgabe des Transkaukasischen Sejms, der noch nicht einmal Zeit hatte, sich zu konstituieren, war daher der Abschluss eines Friedensvertrages mit der Türkei. Die Frage war, zu welchen Bedingungen dieser Frieden erreicht werden würde.
Gewerkschaft der Arbeiter von Transkaukasien:. Zeichnung in der Zeitung "Herausforderung" vom 22. April 1923
In dieser Frage waren die Meinungsverschiedenheiten zwischen den drei transkaukasischen Nationen besonders ausgeprägt. Die Armenier befürworteten die Erhaltung von Transkaukasien als Teil Russlands, da nur dies den Ostarmeniern Sicherheit vor dem Massaker garantieren konnte, dem ihre weiter westlich lebenden Verwandten zum Opfer fielen. Darüber hinaus hofften die Armenier, die territorialen Eroberungen des Russischen Reiches im Westen von Armenien, die einst zur Türkei gehörten, zu bewahren.
Die Aserbaidschaner glaubten, dass Transkaukasien unabhängig von Russland über sein eigenes Schicksal entscheiden und mit der Türkei Frieden schließen sollte, und zwar auf der Basis, sich nicht in ihre inneren Angelegenheiten einzumischen. Darüber hinaus war sehr beliebt bei Aserbaidschanern auch die Idee, der Türkei beizutreten.
Die georgische Seite unterstützte Baku grundsätzlich in der Frage der Unabhängigkeitserklärung von Transkaukasien und des Abschlusses eines unabhängigen Abkommens mit der Türkei, da Transkaukasien einfach nicht die Kraft hatte, der Türkei militärisch entgegenzutreten. Gleichzeitig erwarteten die Georgier, dass Deutschland oder eine andere europäische Macht zum Garanten der Unabhängigkeit werden würde.
Keine der drei Seiten war bereit, Kompromisse einzugehen, und während sie untereinander stritten, stellte die Türkei immer umfassendere Forderungen an Transkaukasien, während es an der Front mühelos vorrückte. Schnell wurde klar, dass es für alle drei Völker einfacher sei, die eigenen Ziele getrennt zu erreichen – die Transkaukasische Föderation bestand wenig länger als einen Monat und wurde im Mai 1918 aufgelöst.
In den Jahren 1918 bis 1920 bekämpften sich die neu gegründeten transkaukasischen Republiken, die anstelle der Föderation entstanden waren. Besonders blutig war der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach. Die Stabilität der jungen Staaten wurde zunächst durch die Intervention Deutschlands und der Türkei gewährleistet, später – nach deren Kapitulation im Ersten Weltkrieg – durch Großbritannien, das vornehmlich am Öl in Baku interessiert war. Großbritannien beabsichtigte, der Weißen Armee im Süden Russlands zu helfen, und unterstützte auch nationale Bewegungen im Nordkaukasus, unter anderem durch die Bereitstellung von Waffen. Parallel dazu kämpften die transkaukasischen Republiken um Anerkennung auf internationaler Ebene und strebten den Beitritt zum Völkerbund an.
Alle diese Bemühungen wurden jedoch im April 1920 zunichte gemacht, nachdem die Rote Armee der Weißen Armee im Nordkaukasus eine endgültige Niederlage zugefügt hatte und in Aserbaidschan einmarschierte. Anschließend – nachdem die Rote Armee sich mit der türkischen Regierung von Kemal Atatürk geeinigt hatte – besetzte sie Armenien und Georgien. So wurde die Macht der Bolschewiki bis Ende des Jahres in allen drei nationalen Republiken von Transkaukasien errichtet.
Grigori "Sergo" Ordschonikidse, Josef Stalin und Anastas MikojanWikipedia
Wo die Revolution endet
Das Jahr 1921 war entscheidend für den Bürgerkrieg. In der Region Tambow, in Westsibirien und in Kronstadt brachen Aufstände aus, die von der Roten Armee brutal niedergeschlagen wurden. Im Wolgagebiet und in der Ukraine wütete eine Hungersnot. Die ersten Anzeichen einer bevorstehenden Spaltung tauchten innerhalb der bolschewistischen Partei auf, und die Neue Wirtschaftspolitik wurde angekündigt. Gleichzeitig wurde über die Verwaltungsstruktur des neuen Staates und die Lösung der nationalen Frage diskutiert.
Seit Beginn der Revolution hatten die Bolschewiki geschworen, das Russische Reich als "Gefängnis der Völker" zu zerstören und allen Nationalitäten das Recht auf Selbstbestimmung zu geben. Das hat sie in der Anfangsphase tatsächlich gerettet, denn ohne die Stärke und Organisiertheit der lettischen Schützen wäre ihr Aufstand zweifellos niedergeschlagen worden. Aber in den späteren Stadien des Krieges, während des Marsches auf Warschau, war dieses Versprechen tatsächlich bereits gebrochen worden. Nun bestand die Aufgabe darin, die Kontrolle über das Territorium des ehemaligen zaristischen Imperiums zu halten und gleichzeitig zu demonstrieren, wie fortschrittlich das marxistische System war, indem Forderungen nach nationaler Souveränität erfüllt wurden. Zur Lösung dieses Problems gab es zwei Ansätze.
Stalin war der Befürworter eines ersten Ansatzes. Die Partei betrachtete ihn aufgrund seiner georgischen Herkunft und einer eher oberflächlichen Schrift, die er 1913 mit dem Titel "Marxismus und die nationale Frage" veröffentlicht hatte, als den wichtigsten Experten für ethnische Angelegenheiten. In dieser Broschüre wies er auf eine gemeinsame Sprache, ein gemeinsames Territorium, eine gemeinsame Wirtschaft und einen gemeinsamen Charakter als obligatorische Merkmale für die Definition einer Nation hin. Auf dieser Grundlage behauptete er beispielsweise, die zweitausendjährige Geschichte ignorierend, dass die Juden kein unabhängiges Volk seien und ihre Assimilation daher ein bevorstehender und unvermeidlicher Prozess sei.
1921 erwog Stalin die Möglichkeit, alle Sozialistischen Republiken an Russland anzuschließen und ihnen gleichzeitig weitgehende Autonomie zu gewähren. Gleichzeitig wurde unterschieden zwischen vermeintlich etablierten, vollwertigen Nationen und solchen Nationalitäten, die die nationale Stufe der historischen Entwicklung überspringen und ohne die Bildung eines nationalen bürgerlichen Zwischenstaates direkt von einem feudalen System zu einem kommunistischen Staat übergehen könnten. Dieser Ansatz würde das ehemalige Imperium innerhalb der UdSSR in Sozialistische Republiken aufteilen, mit der Bildung autonomer Regionen innerhalb dieser Unionsrepubliken. So dachte Stalin bereits an die Grenzen des ehemaligen Imperiums und lehnte sich tatsächlich an die Idee der "friedlichen Koexistenz" zweier Systeme an – des kommunistischen und des kapitalistischen –, die er später verwirklichte.
Lenin und Trotzki aber dachten ganz anders. Sie glaubten viel stärker an die Idee einer Weltrevolution und ließen sich auch von der Wirtschaftstheorie des Kommunismus leiten. Demnach war das Agrarland Russland unzureichend entwickelt und verfügte nicht über ausreichende Produktionsmittel – Industrie, Wissenschaft, Kommunikation –, um eigenständig den Kommunismus aufzubauen. Ein so junges Land konnte einfach nicht alleine überleben und sich gegen die gesamte bürgerliche Welt stellen, die viel weiter entwickelt war. Sie glaubten an die Notwendigkeit einer permanenten Revolution, die aus Russland exportiert werden würde, mit anschließender Vereinigung der Volkswirtschaften aller neuen kommunistischen Länder. Angesichts der Revolutionen in Deutschland und Nordpersien sowie der dortigen Popularität linker Ideen schien dies alles durchaus realistisch.
Unter Anwendung dieser supranationalen Logik schlug Lenin vor, die transkaukasischen Republiken nach territorialen Prinzipien zu einem einzigen Staat zu vereinen. Darüber hinaus würde das Vorhandensein einer solchen multinationalen Föderation unter den Gründungsländern der UdSSR, die sich die Bolschewiki wahrscheinlich als eine Art Schweiz vorstellten, den internationalen Status der Sowjetunion unterstreichen und auf die Möglichkeit hinweisen, dass andere kommunistische Länder ihr freiwillig beitreten könnten. Und da Lenins Autorität in der Partei absolut war, wurde dies die vorherrschende Position.
Die sowjetischen Führer Josef Stalin, Wladimir Iljitsch Lenin und Michail Kalinin im Jahr 1919
Jedoch war das wahrscheinlich Lenins letzter glatter Sieg. Der Bundesvertrag zwischen dem sozialistischen Armenien, Georgien und Aserbaidschan wurde am 12. März 1922 unterzeichnet, aber bereits im Mai erlitt Lenin seinen ersten Schlaganfall. Den danach einsetzenden Kampf um die Macht gewann Stalin, und der föderale Charakter der Sowjetunion wurde bereits in ihrer Verfassung von 1936 nominell verankert, die von den nationalen Republiken einzeln unterzeichnet wurde.
Die Meinungsverschiedenheit in der Frage der Föderation von Transkaukasien offenbart deutlich einen grundlegenden Unterschied zwischen den ersten beiden Staatsoberhäuptern der UdSSR. Für Lenin war die Idee, den globalen Kommunismus aufzubauen, das vorrangige Ziel, und Russland war nur das Mittel dazu. Stalin hingegen war davon überzeugt, dass es am wichtigsten sei, die Macht im eigenen Land zu erhalten. Ideen über eine weltweite Revolution könnten zu ihrem Verlust führen und galten für ihn daher als gefährlich.
Eine gescheiterte Union
Wie konnte überhaupt die Idee entstehen, drei ethnisch, sprachlich, religiös und kulturell unterschiedliche Völker in einer Republik zu vereinen? Wenn man von Tiflis, Jerewan und Baku darauf blickt, dann erscheint diese Idee absurd. Aber sie wurde von Petrograd und Moskau aus als realisierbar betrachtet. Tatsache ist, wenn wir das Russische Reich als Kolonialmacht betrachten und es mit Spanien, England oder Frankreich vergleichen, dann ähnelte Transkaukasien einer Kolonie.
Als Katharina die Große 1784 den Vertrag von St. Georg über die Annexion von Kartlien und Kachetien durch das Russische Reich unterzeichnete, bestand keine sichere Landverbindung mit Transkaukasien. Der Kaukasus zwischen Russland und Georgien war eine ebenso schwer zu überwindende natürliche Barriere wie der Atlantik zwischen Spanien und Mexiko. Neben den hohen Bergen und schneebedeckten Pässen im Winter bestand auch eine ernsthafte Bedrohung durch Angriffe der lokalen Hochländer, die erst niedergeschlagen wurden durch eine lange und blutige Serie von Kriegen, die gut die Hälfte des 19. Jahrhunderts andauerten.
Die ethnisch vielfältige Bevölkerung von Transkaukasien hatte zu dieser Zeit keine vollwertige Staatlichkeit, und lokale Bräuche traten an die Stelle des Rechts. In Bezug auf den Kolonialhandel und die natürlichen Ressourcen waren diese Gebiete möglicherweise nicht so interessant wie die Kolonien westeuropäischer Länder. Nichtsdestotrotz konnten sie als Sprungbrett für eine weitere Expansion in die reichen Nachbargebiete des Osmanischen Reiches und Persiens dienen, die beide zu schwächeln begannen.
So wie Spanien den Interessen der indigenen Völker Mexikos und Perus wenig Beachtung schenkte, ging es dem zaristischen Russland bei der Verwaltung seiner Territorien in erster Linie um Bequemlichkeit. Und da es nur wenige echte russische Kolonisten gab – die meisten waren Militärs –, war die lokale Bevölkerung mit der Situation zufrieden. In Tiflis und Baku kamen Armenier, Aserbaidschaner und Georgier friedlich miteinander aus. Doch sobald die Zentralregierung zu schwächeln begann, flammten ethnische und religiöse Konflikte erneut auf, so wie es zum Beispiel auch in Indien nach dem Abzug der Briten geschah.
Das soziale Experiment der UdSSR mit Transkaukasien war insofern einzigartig, als sich dank der internationalen Ideologie des Kommunismus neue Kolonien auf Augenhöhe mit den Metropolen entwickeln konnten und ihre Bürger die gleichen Rechte, Möglichkeiten und den gleichen Zugang zu wirtschaftlichen Ressourcen erhielten. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebten alle Sowjetrepubliken einen Anstieg des Lebensstandards und den Bau großer Infrastruktureinrichtungen. Gleichzeitig schienen die interethnischen Konflikte beigelegt zu sein – obwohl sie, wie der spätere Zusammenbruch der UdSSR zeigte, einfach nur eingefroren waren –, was es mehreren Generationen ermöglichte, in Frieden und Sicherheit aufzuwachsen.
Stalin, Sergo Ordschonikidse, Anastas Mikojan und Lawrenti Beria wurden alle in peripheren Kolonien des Zarenreiches geboren, aber sie regierten in den 1930er Jahren eine riesige Metropole. Der nationalen Zugehörigkeit wurde in der UdSSR wenig Aufmerksamkeit geschenkt, und die Privilegien erblicher Eliten existierten nicht mehr. Zum Vergleich: Der erste nicht-angelsächsische amerikanische Präsident wurde erst 1961 gewählt – nämlich der irisch-stämmige Katholik John F. Kennedy – und erst 2019 wurde Boris Johnson der erste katholisch getaufte Premierminister des Vereinigten Königreichs.
Und wenn wir uns vorstellen, dass Lenins Idee einer föderalen Struktur für Transkaukasien nicht von Stalin begraben worden wäre und dass die postsowjetischen Führer einer solchen Föderation den politischen Willen gehabt hätten, die Einheit zu bewahren – wer weiß, was dann geschehen wäre? Vielleicht gäbe es heute statt der ständig drohenden Kriegsgefahr um Bergkarabach wirklich eine kaukasische Schweiz – eine ernstzunehmende Regionalmacht und eine Insel der Stabilität an der Schnittstelle zwischen Ost und West. Oder das Ganze hätte wie in Jugoslawien einfach implodieren können.
Übersetzt aus dem Englischen
Anatoli Brusnikin ist ein russischer Historiker und Journalist.
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