Samuel Althof: Grundsätzlich ist jede Radikalisierungsgeschichte anders. Winterthur ist meines Wissens in der Schweiz aber einzigartig, weil sich in der An’Nur-Moschee eine Jugendgruppe mit einem starken Eigenleben bildete. Das ist aber nicht etwa auf die Jugendarbeit des Vorstands zurückzuführen, sondern war eher eine zufällige Entwicklung. Als Kitt für den Gruppenzusammenhalt dienten vor allem Fussball und Gamen, die Religion war nur eines der Identitätsmerkmale. Die Dynamik dieser Gruppe wurde nicht rechtzeitig erkannt und später falsch interpretiert, deshalb konnte ein schrecklicher Dominoeffekt entstehen. Der erste, der ins Kalifat ging, meldete der Gruppe zurück: Es ist toll, kommt auch. Danach kippte einer nach dem anderen.
Als erster ist vermutlich der italienischstämmige Konvertit S.V. ausgereist, der nach seiner Rückkehr lange in U-Haft war und nun auf seinen Prozess wartet. Er hat sich selber «Emir» genannt, in den Medien bekam er den Übernamen «Leitwolf».
Wer ihn Leitwolf nennt, dramatisiert die Geschichte unnötig und schürt damit Angst. Zudem ist S.V. kein Tier, sondern ein Mensch, der aufgrund seiner Vorgeschichte gehandelt hat. Dass Menschen mit Tieren verglichen werden, bedeutet deren Ausschluss aus dem Menschsein. Das kenne ich bestens von der Nazirhetorik.
Mit dem Begriff Leitwolf war wohl gemeint, dass er in der Winterthurer Szene eine Führungsposition inne hatte.
Es gibt in der Schweiz überhaupt keine echten Führungspersonen. S.V. hatte schon eine gewisse Relevanz, ist aber sicher keine Leitfigur wie es zum Beispiel Ulrike Meinhof bei der Roten Armee Fraktion war. Eine wirksame Leitfigur muss über eine intellektuelle Leistung verfügen. Ich habe S.V. zwar nie persönlich getroffen, kenne aber die Berichterstattung der «Rundschau» und die Einschätzung von anderen Fachkräften aus der Prävention. Demnach ist er vor allem ein Macho, findet schnelle Autos und Frauen toll, ist stolz auf seine Muckis. Er verfügt aber über kein wirkliches ideologisches Argumentarium. Im besten Fall ist er ein Verführer. Ihn als Leitfigur zu bezeichnen, kommt einer Ikonisierung gleich. Man schreibt ihm dadurch mehr Macht und Wirksamkeit zu, als er in der Realität hat.
Der ehemalige Kriegsreporter Kurt Pelda, der die Berichterstattung über die Islamistenszene dominiert, hat die Jugendgruppe als «losen Zusammenschluss von radikalen Salafisten» beschrieben. Sie würden sich an einer buchstabengetreuen Koranauslegung orientieren, Hochwasserhosen tragen und sich den Bart wachsen lassen. Deckt sich diese Beschreibung mit Ihren Erfahrungen?
Pelda zeichnet das Bild einer Gruppierung, die genau weiss, was sie will. Er sprach auch schon von einer IS-Zelle und insinuiert damit strukturellen und programmatischen Extremismus. Auf diejenigen, die ich kennengelernt habe, trifft dies alles nicht zu. Ein Gruppenmitglied, mit dem ich bis vor kurzem in Kontakt stand, hatte zum Beispiel – obwohl er der Sohn eines früheren Imams der An’Nur-Moschee ist – kein vertieftes Wissen vom Islam oder dem Salafismus. Das ist bei den meisten so. Darum würde ich hier von symptomatischem Salafismus sprechen, aber nicht von einem programmatischen.
«Kurt Pelda zeichnet das Bild einer Gruppierung, die genau weiss, was sie will.»
Wo genau liegt der Unterschied?
Ein programmatischer Extremist hat ein ideologisches Gedankengebäude verinnerlicht und bewegt sich nur noch in entsprechenden Kreisen. Argumente prallen an einer solchen Person ab. Bei symptomatischen Extremisten ist das anders: Sie verhalten sich so, als ob sie zum Beispiel Salafisten wären. Sie glauben auch, dass sie es sind, weil alle rundherum entsprechend auf sie reagieren. Das Auslösen von Angst ist ein Teil davon. Diese Phänomene sind auch aus dem Rechtsextremismus bekannt. Dort sind es die Jungs, die mit der Bomberjacke Eindruck schinden wollen und damit schon zufrieden sind. Solange jemand symptomatisch extremistisch ist, kann man meistens noch mit präventiven Massnahmen arbeiten.
Von aussen nimmt man bei einer solchen Person aber vermutlich nur die salafistische Fassade wahr. Wie erreicht man den Menschen dahinter?
Das ist sehr individuell. Ich gebe Ihnen ein Beispiel eines 15-jährigen Jungen mit albanischem Hintergrund aus dem Raum Basel. Sein Vater rief mich an, weil er in der Schule mit einer Schere auf jemanden losgegangen war und dabei «Allahu Akbar» gerufen hatte. Der Vater hatte grosse Angst, sein Sohn sei radikalisiert. Der Junge habe ihm erzählt, er finde Steinigung gut, weil es die Scharia so vorschreibe. Ich sagte dem Vater: Dein Sohn will offenbar mit dir eine Debatte über die Todesstrafe führen. Der Vater war erstaunt, dass ich die Radikalisierungsanzeichen nicht als rotes Tuch, sondern als Aufforderung zum Dialog sah, und liess sich darauf ein. Er musste sich selber ins Thema einlesen und diskutierte danach mit seinem Sohn über die Steinigung im Islam, die Todesstrafe in den USA und auch über unsere Rechtsnormen. Die Provokation mit der Steinigung war für den Sohn dann schnell nicht mehr interessant. Und statt dass es zum Bruch zwischen Vater und Sohn kam, haben die beiden einen Weg zur Kommunikation gefunden.
In Winterthur haben aber offenbar viele Mitglieder der Jugendgruppe das Stadium des symptomatischen Extremismus überschritten. Laut Recherchen von Kurt Pelda waren praktisch alle Jihadreisenden Teil der Jugendgruppe oder zumindest mit deren Mitgliedern befreundet.
Das heisst nicht unbedingt, dass sie alle schon programmatisch waren. Symptomatische Extremisten können genauso gefährlich werden. Auch der Teenager in der Bomberjacke kann Ihnen einen Faustschlag verpassen. Aber es ist nicht dieselbe Gefahr, weil wir in solchen Fällen viele Möglichkeiten der Prävention haben. Pelda lässt der Symptomatik vieler Jugendlicher keinen Raum, er differenziert zu wenig.
Sie sind also gegen Repression?
Nein, auf keinen Fall! Der Repressionsdruck ermöglicht es oft erst, den Zugang zu den Betroffenen zu öffnen, denn sie lernen auf diesem Weg, dass unser Staat Extremismus nicht duldet und ihn mit demokratisch erarbeiteten Gesetzten auch sozial ächtet. Wird ein symptomatischer Extremist jedoch gleich wie ein Programmatischer behandelt, bietet man ihm die Radikalisierung geradezu an.
Was passiert denn, wenn repressive Massnahmen gegen symptomatische Extremisten ergriffen werden?
Wenn man jemanden, der nicht wirklich gefährlich ist, als Gefahr bezeichnet, dann bewirkt das eine Desindentifikation. Das ist eine Form von psychischer Gewalt. Bei der Jugendgruppe der An’Nur-Moschee bewirkte dies, dass die Jugendlichen Angst voreinander bekamen. Der Sohn des Imams schilderte das mir gegenüber so, als ob jeder eine ansteckende Krankheit haben könnte, von der eine tödliche Gefahr ausginge und über die ständig in den Medien berichtet wird. Viele waren zu jung, um die Situation reflektiert zu betrachten. Das war auch keine eng verbundene Gruppe, die sich gemeinsam gegen den Druck von aussen hätte wehren können. Deshalb ging jeder seinen Weg.
«Er bat mich um Hilfe, weil sich einer seiner Kollegen in der U-Haft radikalisiert habe.»
Zu welchem Zeitpunkt hat sich die Jugendgruppe aufgelöst?
Das begann, als die Berichterstattung über die An’Nur so richtig Fahrt aufnahm. Als die Forderung aufkam, die Moschee zu schliessen und immer mehr über die Jugendgruppe bekannt wurde. Zum Beispiel die Geschichte mit dem Gruppengebet auf einem Pausenplatz, bei dem der Sohn des Imams als Vorbeter fungierte. Mir gegenüber hat er gesagt, sie hätten dort gebetet, weil sie beim Fussballspielen die Zeit vergassen und es nicht mehr rechtzeitig in die Moschee geschafft hätten. Er hat das selber als Blödsinn bezeichnet, als eine Art von «Seich machen». Sie hätten auch nicht damit gerechnet, dass sie dabei beobachtet werden, denn der Pausenplatz war ja leer. Ich glaube seiner Darstellung, denn vor anderen zu beten, wäre eine Demonstration gewesen, und dafür ist er viel zu unsicher eben nicht programmatisch.
Wie haben Sie eigentlich den Sohn des Imams kennengelernt?
Er hat mich kontaktiert und bat mich um Hilfe, weil sich einer seiner Kollegen in der U-Haft radikalisiert habe.
Selber ist er also kein Radikaler?
Ich kann ihn nur aufgrund von dem beurteilen, wie er sich gibt und was er über seine Mikromimik verrät. Bei ihm konnte ich keine programmatischen Ansätze einer Radikalisierung finden. Er zeigte kein dominanzorientiertes Denken und war dialogoffen. Er ist sicher intelligent und sehr differenziert. Auf der anderen Seite ist er – wie viele andere Jugendliche auch – ein Lümmel, der auch mal unüberlegt handelt.
Sie zeichnen das Bild einer Gruppe von pubertären oder in einigen Fällen wohl spätpubertären Menschen, die gerne Salafisten spielen, aber eigentlich wahnsinnig unsicher sind. Wissen Sie, wie sich die Mitglieder der Jugendgruppe selber sehen?
Diejenigen, die ich kenne, haben noch kein abgeschlossenes Selbstbild. Viele meinen, Muslime seien grundsätzlich in der Opferposition. Oft haben sie einen Namen, der auf ihre Religion schliessen lässt, dann ist vielleicht jemand in der Verwandtschaft diskriminiert worden oder sie haben von solchen Vorfällen aus den Medien erfahren. Dazu kommt in konservativen Kreisen die Forderung, religiös zu werden. Viele haben einen Migrationshintergrund. Sie haben Mühe, ihre eigene Identität zu verstehen, weil sie aus so vielen Teilen besteht. Einige sind mit der Verarbeitung von Fluchtgeschichten beschäftigt oder haben Dramen innerhalb der Familie erlebt.
Welche Faktoren haben die Gruppe von aussen beeinflusst, abgesehen von der Verurteilung in den Medien?
Eltern, die lokale Politik, die Gesellschaft und ihre Reaktion auf den Islam, Kriege im Nahen Osten, die als ungerecht empfunden werden. Natürlich haben auch religiöse Mittler einen Einfluss, sei es nun im Internet oder in Gestalt eines lokalen Imams, sie sind aber nicht der wichtigste Faktor. Das Problem ist folgendes: Je verunsicherter die Jugendlichen sind, desto mehr suchen sie Halt in einer Struktur. In diesem Fall ist es halt der Islam.
Haben Sie auch schon mit Extremisten zu tun gehabt, die Sie als programmatisch bezeichnen würden?
Normalerweise nehme ich solche Fälle nicht an, weil diese Menschen für die Prävention nicht mehr zugänglich sind. Beim ehemaligen Thaiboxer V.G. aus Süddeutschland habe ich eine Ausnahme gemacht, weil seine zwei noch sehr kleinen Kinder später sicher gefragt hätten, wieso niemand versucht hat, ihn aus Syrien zurückzuholen. V.G. gehörte allerdings nicht zur Winterthurer Jugendgruppe und hat vermutlich auch niemanden radikalisiert. Ich habe mich über einen längeren Zeitraum mit ihm unterhalten, und er sagte mir, er habe niemanden von seinen Reiseplänen erzählt, weil dies viel zu riskant gewesen wäre. Er war absolut überzeugt davon, dass es sich lohnen würde, fürs Kalifat zu sterben. Ich wollte versuchen, seinen Bezug zur Realität wieder zu vergrössern, indem ich für ihn und seine Familie eine Video-Konferenz organisierte. Alle waren einverstanden. Einen Tag vor dem verabredeten Termin wurde V.G. jedoch vermutlich in Syrien erschossen.
Wie sind Sie überhaupt zu V.G. durchgedrungen, wenn er doch absolut ideologisiert war?
Auf die ideologischen Inhalte einzugehen, bringt nichts, das mache ich nie. Bei ihm fand ich den Zugang übers Thema Schmerzen. Ich habe ihn gefragt: Wie machst du das eigentlich, wenn dich beim Thaiboxen ein Gegner trifft, und du leidest? Das hat ihn natürlich interessiert. Ich versuche immer, die Originalität und die Integrität in der Person zu sehen. Dafür muss ich mich von allen Feindbildern lösen, darf ihn also nicht nur als Terroristen sehen. Ich spreche hier aber natürlich aus dem Blickwinkel der Prävention. Ein Polizist muss das anders machen. Aus einer kombativen Perspektive sind Feindbilder überlebenswichtig. (Landbote)
Erstellt: 04.10.2017, 16:57 Uhr