Krieg Ukraine Israel: 27.3.-3.4.2.2024: Terroranschlag in Moskau + die USA/ Der Westen ist Opfer des eigenen Denkens/ Aufrüstung versus Sozialstaat: "Kanonen + Butter, das geht nicht"/ Schweiz: Mitmachen beim europäischen Selbstmord oder neutral bleiben?
Anschlag auf Crocus-Konzerthalle: Nuland, Budanow, tadschikische Terroristen
Von Pepe Escobar
Beginnen wir mit einer Kette von Ereignissen, die möglicherweise zum Terroranschlag auf die Crocus City Hall am Stadtrand von Moskau geführt haben könnten. Diese Kette ist so explosiv, wie sie nur sein kann. Quellen aus Geheimdienstkreisen in Moskau bestätigten unter der Hand, dass diese Kette eine der wichtigsten Linien bei den Ermittlungen ist, die vom Inlandsgeheimdienst FSB durchgeführt werden.
Es ist der 4. Dezember 2023: General Mark Milley, der ehemalige Vorsitzende des US-Generalstabs, äußert drei Monate nach seiner Pensionierung gegenüber der Zeitung Washington Post, dem Sprachrohr der CIA: "Es sollte keinen Russen geben, der schlafen geht, ohne sich zu fragen, ob ihm nicht mitten in der Nacht die Kehle durchgeschnitten wird. Mann muss den Kampf tief hinter die Frontlinie des Feindes tragen."
Es ist der 4. Januar 2024: In einem Interview mit dem US-Nachrichtensender ABC News legt Kirill Budanow, der Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes, die Marschrichtung fest: Angriffe, die immer tiefer ins russische Kernland reichen.
Es ist der 31. Januar 2024: Victoria Nuland, damals noch Unterstaatssekretärin für politische Angelegenheiten des US-Außenministeriums, reist nach Kiew und trifft dort Budanow. Während einer improvisierten Pressekonferenz mitten in der Nacht, auf irgendeinem Platz in Kiew, kündigt sie "unangenehme Überraschungen" für Wladimir Putin an, was die unverhohlene Ankündigung einer asymmetrischen Kriegsführung ist.
Es ist der 22. Februar 2024: Victoria Nuland kreuzt bei einer Veranstaltung des Zentrums für Strategische und Internationale Studien (CSIS) auf und betont noch einmal mögliche "böse Überraschungen". Dies kann als finales Signal für Budanow gedeutet werden, mit dem Einsatz schmutziger Operationen zu beginnen.
Es ist der 25. Februar 2024: Die New York Times veröffentlicht einen Artikel über Operationsbasen der CIA in der Ukraine, was im Grunde nichts war, was russische Geheimdienste nicht bereits wussten.
Dann eine kurze Verschnaufpause bis 5. März 2024, dem Tag, an dem möglicherweise das entscheidende Schattenspiel in Gang gesetzt wurde. Das wahrscheinlichste Szenario: Nuland war neben der CIA und dem ukrainischen GUR, dem militärischen Geheimdienst, dem Budanow vorsteht, ein zentraler Verschwörer bei der Planung terroristischer Operationen. Rivalisierende Fraktionen innerhalb des tiefen Staates der USA haben davon Wind bekommen und versuchten, Nuland auf die eine oder andere Weise zu "neutralisieren", weil die russischen Geheimdienste unweigerlich die Zusammenhänge erkennen würden. In der Folge wurde Nuland offiziell von ihrem Posten entfernt.
Doch Nuland ist in Tat und Wahrheit noch lange nicht "im Ruhestand". Sie präsentiert sich immer noch als Unterstaatssekretärin für politische Angelegenheiten des US-Außenministeriums. Erst kürzlich erschien sie zu einem Treffen der G7 in Rom, obwohl ihr neuer Job theoretisch auf einem Lehrstuhl an der Universität von Columbia sein sollte – eine Rochade, die von Hillary Clinton eingefädelt wurde. Gleichzeitig wurden die Weichen für eine große "böse Überraschung" gelegt, die aber noch völlig im Dunkeln und unterhalb des Radars der russischen Geheimdienste lagen. Aber die geplante Operation konnte unmöglich abgesagt werden.
Moskau: Botschaften der USA und Großbritanniens warnen vor Terroranschlag in den nächsten 48 Stunden
Zeitliche Abfolge vor dem Anschlag
Es ist der 5. März 2024: US-Außenminister Antony Blinken gibt offiziell Victoria Nulands "Rücktritt" bekannt.
Es ist der 7. März 2024: Mindestens ein Bürger aus Tadschikistan, der dem späteren vierköpfigen Terrorkommando angehörte, besucht die Crocus City Hall und lässt sich dabei von einem Veranstaltungsfotografen ablichten.
Es ist die Nacht vom 7. auf den 8. März 2024: Die Botschaften der USA und Großbritanniens kündigen gleichzeitig einen möglichen Terroranschlag in Moskau an und fordern ihre Staatsangehörigen auf, in den kommenden zwei Tagen "Konzerte und größere Versammlungen" zu meiden.
Es ist der 9. März 2024: Der beliebte und patriotische russische Sänger Shaman tritt in der Crocus City Hall auf. Das könnte der sorgfältig ausgewählte Anlass für die von Nuland angekündigte "böse Überraschung" gewesen sein, da das Konzert nur wenige Tage vor den russischen Präsidentschaftswahlen stattfindet. Aber die Sicherheitsvorkehrungen in der Crocus City Hall sind umfassend, weshalb die Operation verschoben wird.
Es ist der 22. März 2024: Der Terroranschlag auf die Crocus City Hall findet statt.
ISIS-K – die ultimative Büchse der Pandora
Die Verbindung des Terroranschlags zu Budanow wird durch die Vorgehensweise der Täter bloßgelegt, ähnlich wie bei früheren Terroranschlägen durch die Geheimdienste der Ukraine, wie zum Beispiel auf Daria Dugina oder Wladlen Tatarski. Zunächst die Aufklärung des Anschlagorts über mehrere Tage hinweg, danach der Terroranschlag und dann eine Flucht in Richtung der russisch-ukrainischen Grenze. Und das bringt uns zur Verbindung zu tadschikischen Extremisten.
Es scheint zahlreiche Lücken im Narrativ der zerlumpten Taugenichtse zu geben, die zu Massenmördern wurden. Laut ihren Geständnissen folgten sie einem islamistischen Prediger auf Telegram. Dieser soll den vier Männern mickrige 500.000 Rubel angeboten haben – ungefähr 4.200 Euro –, um in einem Konzertsaal wahllos Menschen zu ermorden. Die Hälfte des Geldes soll per Telegram überwiesen worden sein. Anschließend sollen die Männer zu einem Waffenversteck geleitet worden sein, wo sie Sturmgewehre vom Typ AK-12 und Handgranaten vorgefunden haben wollen.
Videoaufnahmen von dem Anschlag zeigen, dass die Attentäter ihre Sturmgewehre professionell einsetzten. Die Schüsse waren präzise, es gab keinerlei Panik unter den Attentätern und der Einsatz der Handgranaten war effektiv. Anschließend flüchteten die Terroristen blitzschnell vom Tatort, um noch rechtzeitig das "Fluchtfenster" zu erreichen, das auf sie an der Grenze zur Ukraine wartete.
All dies erfordert Training und Vorbereitung. Und das gilt auch für die zu erwartenden unangenehmen Verhöre durch die Sicherheitsbehörden im Falle einer Festnahme. Dennoch scheint es dem FSB gelungen zu sein, alle festgenommenen Attentäter zu "knacken" – im wahrsten Sinne des Wortes.
Einer der Täter im Hintergrund ist Abdullo Burijew. Türkische Geheimdienste hatten ihn zuvor als einen Drahtzieher von ISIS-K in Afghanistan identifiziert. Einer der Terroristen vom Anschlag in der Crocus City Hall gestand dem FSB, dass ihr "Bekannter" Abdullo ihnen geholfen habe, jenes Auto zu kaufen, dass sie für die Fahrt zum Tatort und für die anschließende Flucht verwendet hätten. Und das führt uns zu der ultimativen Büchse der Pandora: zu ISIS-K.
Ein afghanischer Tadschike namens Sanaullah Ghafari, auch bekannt unter seinem Kampfnamen Schahab al-Muhajir, ist seit 2020 der mutmaßliche führende Emir von ISIS-K. Im Gegensatz zu dem, was die USA behaupten, wurde Ghafari nicht im Juni 2023 in Afghanistan getötet. Derzeit könnte er sich im pakistanischen Belutschistan versteckt halten.
Doch die eigentliche Person von Interesse ist hier nicht der Tadschike Ghafari, sondern der Tschetschene Abdul Hakim al-Schischani, der ehemalige Anführer der dschihadistischen Gruppierung Ajnad al-Kavkaz (Soldaten des Kaukasus), der in Idlib gegen die syrische Regierung kämpfte. Anschließend flüchtete er vor der Terrorgruppe Hayat Tahrir al-Sham (HTS), die es wegen einer dieser klassischen Reibereien unter Dschihadisten auf ihn abgesehen hatte, in die Ukraine.
Al-Schischani wurde während der Angriffe aus der Ukraine auf die russisch Grenzregion Belgorod an der russisch-ukrainischen Grenze gesichtet. Nennen wir es einen weiteren Vektor im Arsenal der "bösen Überraschungen". Al-Schischani befand sich zu dem Zeitpunkt bereits seit über zwei Jahren in der Ukraine und hatte inzwischen die ukrainische Staatsbürgerschaft erworben. Er ist in der Tat die deutlichste Verbindung zwischen den fiesen, bunt zusammengewürfelten Terrorbanden in Idlib und dem ukrainischen Militärgeheimdienst in Kiew.
Die Tschetschenen von Al-Schischani arbeiteten eng mit der Terrorgruppierung Jabhat al-Nusra zusammen, die praktisch nicht von ISIS zu unterscheiden war. Al-Schischani, ein leidenschaftlicher Feind von Assad, Putin und Kadyrow, ist der klassische "gemäßigte Rebell", wie er seit Jahren von der CIA und dem Pentagon als "Freiheitskämpfer" beworben wird.
Einige der vier am Terroranschlag in Moskau beteiligten Tadschiken scheinen einer ideologischen und/oder religiösen Indoktrination über das Internet zum Opfer gefallen zu sein, die von ISIS-K in dem Chatroom "Rahnamo ba Churoson" verbreitet wurde. Dieses Spiel der Indoktrination wurde von einem Tadschiken namens Salmon Churosoni geleitet. Er ist jener, der den ersten Schritt bei der Rekrutierung des Moskauer Terrorkommandos gemacht hat. Churosoni ist mit ziemlicher Sicherheit der Verbindungsmann zwischen ISIS-K und der CIA.
Das Problem ist, dass die Vorgehensweise der Terroranschläge von ISIS-K niemals bloß eine Handvoll Dollars beinhaltet. Das eigentliche Versprechen liegt im Einzug in das Paradies durch Märtyrertum. Doch in diesem Fall scheint es Salmon Churosoni zu sein, der die Belohnung in Höhe von 500.000 Rubel genehmigt hat.
Nachdem Abdullo Burijew die Anweisungen an die Attentäter weitergegeben hat, leisteten sie online das sogenannte "Bayat" – den Treueschwur auf ISIS. Die Ukraine war möglicherweise nicht ihr endgültiges Ziel. Ein anderer ausländischer Geheimdienst hätte sie womöglich in die Türkei und anschließend nach Afghanistan geschleust. Und genau dort ist Salmon Churosoni zu finden. Er könnte der ideologische Vordenker des Terroranschlags in der Crocus City Hall gewesen sein. Aber entscheidend ist, dass er nicht der eigentliche Auftraggeber war.
Kiews Techtelmechtel mit Terrororganisationen
Die ukrainischen Geheimdienste SBU und GUR benutzten die "islamische Galaxie des Terrors" seit dem ersten Krieg in Tschetschenien Mitte der 1990er-Jahre nach Belieben. General Mark Milley und Victoria Nuland wussten das natürlich, da es in der Vergangenheit in der Sache zwischen dem GUR und der CIA ernsthafte Zerwürfnisse gab.
In Anlehnung an die Symbiose jeder ukrainischen Regierung, die nach 1991 an die Macht kam, mit diversen terroristischen und dschihadistischen Gruppierungen, hat Kiew nach dem Maidan diese Verbindungen insbesondere mit Banden aus Idlib sowie den Gruppierungen aus dem Nordkaukasus intensiviert. Angefangen bei den tschetschenischen Schischani über ISIS in Syrien bis hin zu ISIS-K in Afghanistan. Der GUR zielt routinemäßig darauf ab, Kämpfer des ISIS und des ISIS-K über Online-Chaträume zu rekrutieren. Exakt jene Vorgehensweise, die schließlich zum Terroranschlag in Moskau führte.
Eine Vereinigung namens Azan, die 2017 von einem gewissen Anvar Derkach gegründet wurde, einem Mitglied der transnationalen islamistischen Bewegung Hizb ut-Tahrir, erleichtert tatsächlich das Leben von Terroristen, die in der Ukraine gegen Russland kämpfen – unter anderem von extremistischen Tataren von der Krim. Die Unterstützung reicht von der Organisation einer Unterkunft bis hin zu juristischem Beistand.
Schließlich führten die Ermittlungen des FSB zu einer Spur: Der Terroranschlag auf die Crocus City Hall wurde von Profis geplant und keinesfalls von einem Haufen tadschikischer Nichtsnutze mit einem niedrigen Intelligenzquotienten. Der Anschlag wurde nicht von ISIS-K geplant, sondern vom GUR, in einer klassischen verdeckten Operation, bei der die ahnungslosen Tadschiken den Eindruck hatten, sie würden im Namen von ISIS-K handeln.
Zudem enthüllten die Ermittlungen des FSB die üblichen Vorgehensweisen des Terrors, zu dem auf Onlineportalen angestiftet wird. Ein Rekrutierer konzentriert sich auf ein bestimmtes Profil auf Social Media, passt sich der Zielperson an, insbesondere an seinen meist niedrigen Intelligenzquotienten und stellt ihm das für die Ausübung seiner Tat notwendige finanzielle Minimum zur Verfügung. Anschließend wird die Zielperson entbehrlich. Jeder in Russland erinnert sich daran, dass der Fahrer des Lastwagens, der beim ersten Anschlag auf die Krim-Brücke detonierte, nicht wusste, was er im Laderaum hatte.
Was ISIS betrifft, weiß jeder, der sich ernsthaft mit Westasien auseinandersetzt, dass es sich hierbei um ein gigantisches Ablenkungsmanöver handelt, bei dem die CIA ISIS-Kämpfer aus dem von den USA besetzten syrischen at-Tanf an den östlichen Euphrat und nach Afghanistan verlegen. Das Projekt ISIS-K startete tatsächlich im Jahr 2021, nachdem es sinnlos geworden war, aus Syrien importierte ISIS-Kämpfer einzusetzen, um den Vormarsch der Taliban zu stoppen.
Terroranschlag bei Moskau – Sacharowa: "Engagement und Verwicklung der USA sind offensichtlich"
Der erfahrene russische Kriegskorrespondent Marat Chairullin hat diesem abgefahrenen Chaos ein weiteres saftiges Stück hinzugefügt. Er enthüllte überzeugend die Perspektive des britischen Auslandsgeheimdienstes MI6 beim Terroranschlag auf die Crocus City Hall. Der FSB ist nun mitten im mühsamen Prozess, die meisten, wenn nicht alle Verbindungen zwischen ISIS-K, der CIA und dem MI6 ans Licht zu zerren. Sobald all dies geklärt ist, wird die Hölle los sein.
Aber das wird nicht das Ende der Geschichte sein. Unzählige Terrornetzwerke werden nicht von westlichen Geheimdiensten kontrolliert, obwohl sie mit westlichen Geheimdiensten über Mittelsmänner zusammenarbeiten. In der Regel läuft das über salafistische "Prediger", die wiederum mit Geheimdiensten aus Saudi-Arabien und den Golfstaaten zusammenarbeiten. Der Fall, dass die CIA klandestine Hubschrauber einsetzt, um Dschihadisten aus Syrien abzuziehen und in Afghanistan abzusetzen, ist im Hinblick auf den direkten Kontakt eher eine Ausnahme als die Norm. Daher werden der FSB und der Kreml sehr vorsichtig sein, wenn es darum geht, die CIA und den MI6 offen zu beschuldigen, diese Terrornetzwerke zu lenken.
Allen vordergründig glaubhaften Leugnungen aus dem Westen zum Trotz scheinen die Ermittlungen im Fall der Crocus City Hall genau dorthin zu führen, wo Moskau sie haben will: zur Aufdeckung der entscheidenden Mittelsmänner. Und alles scheint auf Kirill Budanow und seine Schergen in Kiew hinzudeuten.
Ramsan Kadyrow, der Präsident der russischen Teilrepublik Tschetschenien, gab einen zusätzlichen Hinweis. Er sagte, die Kontaktmänner des Terroranschlags auf die Crocus City Hall hätten sich bewusst dafür entschieden, Elemente einer ethnischen Minderheit – in diesem Fall Tadschiken – zu instrumentalisieren, die kaum Russisch sprechen, um alte Wunden in einem multiethnischen Staat wie Russland neu aufzureißen.
Am Ende hat dies nicht funktioniert. Die russische Bevölkerung hat dem Kreml den ultimativen Freibrief ausgehändigt, um gnadenlose Vergeltung für den Terroranschlag in Moskau auszuüben. Wie auch immer und wo auch immer dies geschehen wird.
Ersterscheinung bei Strategic Culture in englischer Sprache.
Pepe Escobar ist ein unabhängiger geopolitischer Analyst und Autor. Sein neuestes Buch trägt den Titel "Raging Twenties" (Die wütenden Zwanziger). Man kann ihm auf Telegram und auf X folgen.
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Der Westen ist Opfer des eigenen Denkens
Überheblichkeit und Verzweiflung
"Wenn die EU nicht richtig reagiert und die Ukraine nicht ausreichend unterstützt, um Russland aufzuhalten, sind wir die Nächsten." Das ist die Einschätzung der Lage durch Charles Michel, den Präsidenten des Europäischen Rates. Immerhin handelt es sich bei Michel um einen führenden europäischen Politiker und nicht um einen hinterwäldlerischen Stammtischbruder aus irgendeinem Provinzkaff hinter dem Mond.
Doch mit diesen Befürchtungen steht Michel nicht allein da, wie die sich überschlagenden Kommentare in den Medien über Russlands Pläne und Putins Absichten belegen. Angesichts des Mangels an Munition, Waffen und Soldaten scheinen alle von Panik ergriffen zu sein, dass die Ukraine dem Vordringen Russlands nicht mehr lange standhalten könnte. Diese Vorstellung von Bedrohung entspringt dem eigenen Denken und Handeln. Denn wo immer ein Gegner des Westens Schwäche zeigt, wird nicht nachgelassen, bis dieser in die Knie gezwungen ist.
Dass natürlich auch Putin und Russland so handeln werden, ist deshalb in den Augen der westlichen Meinungsmacher selbstverständlich. Da der Westen über Jahrzehnte gewohnt war, dass sich sein Denken weltweit durchsetzt und zu einem globalen Maßstab geworden ist, kann es nach seiner Sicht gar nicht anders sein, als dass dieselben Überlegungen auch Russlands Handeln bestimmen. Wie sollte es also anders sein, als dass Putin die derzeitige Schwäche des Westens nutzt, um ihm früheren Wortbruch nun mit doppelter Münze heimzuzahlen?
Eine Erklärung für die Verbreitung solcher wirklichkeitsfernen Sichtweisen besteht in der bewussten Täuschung der Öffentlichkeit. Eine andere aber ist die Verblendung. Man will die Wirklichkeit nicht wahrhaben, ist verfangen im eigenen Weltbild. Denn die Kehrseite dieser nun eingetretenen Panik ist die Überheblichkeit des Westens zu Beginn des Krieges, als man Russland als eine Tankstelle mit Atomwaffen belächelte. Panik jetzt wie die Verachtung vorher sind die zwei Seiten derselben Medaille: das Ausblenden der Wirklichkeit.
In der westlichen Welt bedeuten Erfahrung und Wirklichkeitsnähe nicht mehr viel. Ganz oben im Kurs stehen Ideen, Konzepte, Visionen, alles, was mit Intellekt und Wissenschaftlichkeit, also mit Geist im weitesten Sinne, zu tun hat. Dagegen ist Wirklichkeit langweilig, und zudem macht es Arbeit, sie verstehen zu wollen. Langeweile und Anstrengung haben im westlichen Weltbild kein hohes Ansehen.
Bedrohliche Wirklichkeit
Entsetzt musste der gelernte Philosoph Habeck, also ein Mann des Geistes, vor einiger Zeit feststellen: "Wir sind umzingelt von Wirklichkeit". Aber die Bedrohung, die Habeck und viele seinesgleichen sehen, kommt nicht aus der Wirklichkeit selbst, sondern aus ihrer Leugnung. Wer die Sicherheitsinteressen Russlands nicht wahrhaben will und glaubt, sie beiseiteschieben zu können, darf sich nicht wundern, wenn Russland diesen seinen Sicherheitsinteressen Geltung verschaffen will. Denn warum sollten die Russen ihre eigenen Interessen geringer schätzen als die des Westens?
Letzterer war es jahrzehntelang gewohnt, dass sich aufgrund seiner wirtschaftlichen und militärischen Überlegenheit alles in der Welt nach seinen Interessen richtete. Dass sich das nun ändert, will man noch nicht wahrhaben. So glaubt man noch immer als diejenigen auftreten zu können, die die Regeln in der Welt setzen, anderen Völkern Vorschriften machen und sie entsprechend den eigenen Moralvorstellungen belehren und maßregeln zu können.
So verwundert es nicht, dass die Wahlen in Russland nur als Scheinwahlen angesehen werden, weil es dort kaum politische Kräfte gibt, die sich für die sogenannten westlichen Werte einsetzen. Dementsprechend sind auch die anderen Bewerber keine wirkliche Opposition, sondern kremlnah, weil sie keine anderen Werte vertreten als die politische Führung Russlands auch.
Anscheinend aber sind solche Kritiker schon nicht mehr in der Lage zu erkennen, dass auch im Westen die meisten Parteien sich den sogenannten westlichen Werten verpflichtet fühlen. Wie keine der westlichen Parteien den Aufbau eines Gesellschaftssystems betreibt, das sich an Russland oder China orientiert, so vertritt keine russische Partei die Übertragung westlicher Vorstellungen auf die eigene Gesellschaft. Ganz selbstverständlich aber erwartet der politische Westen von anderen Gesellschaften, was er für den eigenen Hoheitsbereich rundweg ablehnen würde.
Einfache Weltbilder
In diese einseitige Sicht passt auch nicht die Vorstellung, dass die Russen ihrem Präsidenten nicht so ablehnend gegenüberstehen, wie der Westen es für richtig hält. Man kann es sich nur so erklären: "Das Volk ist erfolgreich eingeschüchtert worden. Nichts scheint den Putin-Monolithen erschüttern zu können." In einer solchen Sicht sind die Russen unfähig, ihre Lage zu erkennen, oder zu feige, um die nach westlicher Sicht richtigen Schlüsse daraus zu ziehen und zu handeln.
Dazu scheinen sie offenbar der Denkanstöße vonseiten westlicher Intellektueller zu bedürfen. So stellt der Kommentator der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Reinhard Veser, angesichts der Gegenstimmen bei der Wahl fest, "dass die russische Bevölkerung nicht so geschlossen hinter Putin und seinem Krieg gegen die Ukraine steht". Will er damit der russischen Opposition Mut machen oder eher die eigene Leserschaft beruhigen, dass Putin doch nicht so fest im Sattel sitzt?
Glaubt Veser in seinem einfachen Russenbild, dass alle mit Putin einer Meinung sein müssen, weil nach seiner Sichtweise die Russen sich keine eigene bilden können? Oder ist er gar so verblendet zu glauben, dass man einem gebildeten Volk wie den Russen, das zu großen Teilen die Welt bereist hat, eine Weltsicht aufzwingen kann, obwohl es eine andere Welt gesehen hat? Solche Äußerungen sagen weniger über die Russen aus als über das Bild, das sich die Vesers von ihnen machen.
So gibt er denn auch vor zu wissen ‒ vermutlich besser als jeder Russe ‒, was für dieses Land und seine Menschen das Beste wäre. Getrieben von Weltuntergangsphantasien, prophezeit er, dass sich in der Ukraine "das Schicksal Europas auf lange Zeit" entscheidet, was er aber nicht ausführt. Und als bestens informierter Intellektueller weiß er natürlich auch, "ein Scheitern Putins dort [Ukraine] wäre auch für Russland das Beste". So einfach kann sich die Welt machen, wer die Tatsachen nicht wahrhaben will.
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Ein weiterer Kommentator der FAZ, Jochen Stahnke, zeigt sich überrascht darüber, dass "auch die schärferen Ermahnungen aus Europa gegen China wenig Wirkung zeigen" und das Land die Zusammenarbeit mit Russland verstärkt. Wieso sollte sich China von Europa ermahnen lassen? Würde sich Europa von China solches Verhalten gefallen lassen? Da ist die Überheblichkeit schon so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie gar nicht mehr als solche wahrgenommen wird.
Denn andererseits stellt Stahnke in seinem Artikel fest, dass sich der Handel zwischen Russland und China sehr positiv entwickelt und neue Rekorde erreicht. Wieso ist er dann überrascht, dass die beiden Länder ihre Zusammenarbeit vertiefen und sich von Dritten nicht wollen reinreden lassen, schon gar nicht von ihren gemeinsamen Gegnern?
Dabei hat er doch die Informationen darüber, wie der politische Westen nicht nur Russland sanktioniert. Dieser versucht doch auch seit Jahren, Chinas Entwicklung durch Sanktionen und protektionistische Maßnahmen zu behindern, mischt sich in dessen innere Angelegenheiten ein und redet offen von einem unvermeidlichen Krieg. Was liegt da näher für China und Russland, als sich anzunähern gegen einen Westen, der sie beide bedroht? Das ist doch ganz normale und vernünftige Reaktion. Aber Stahnkes Weltbild scheint solch ein Handeln nicht zu verstehen oder für unangemessen zu halten.
Die große Kunst
Wieso aber verstehen die Stahnkes, Vesers und all die anderen Meinungsmacher in Medien und Politik das nicht? Fehlt es ihnen an Intelligenz? Sind sie gekauft und korrupt? Natürlich werden sie für ihre Kommentare bezahlt, so wie jeder andere für seine Arbeit bezahlt wird. Aber deshalb sind sie nicht korrupter als alle anderen, die für ihre Arbeit bezahlt werden. Sie tun es nicht allein wegen des Geldes. Sie sind überzeugt von dem, was sie sagen und schreiben.
Das aber ist es, was viele der Mainstream-Kritiker nicht verstehen. Sie glauben, dass all jene, die anders denken als sie selbst, korrupt sind, käuflich und anders reden, als sie in Wirklichkeit denken, also lügen. Auch das gibt es sicherlich, ist aber nicht die Regel. Es ist vielmehr so, dass die Wahrheit der anderen anders ist. Insofern ist die Frage des Friseurs von Wolfgang Bittner berechtigt: "Warum meinen Sie, die politische Lage besser beurteilen zu können als ich?". Nur, weil man alternative Fakten hat? Fakten allein schaffen noch kein Weltbild. Aber sie stützen es oder bringen es ins Wanken.
Die intellektuellen Führungskräfte sind Überzeugte. Sie brauchen keine von oben verordnete Agenda, weil die Verteidigung der herrschenden Ordnung ihre ureigenste Agenda ist. Mit ihr identifizieren sie sich. Man muss ihnen nicht auftragen, was sie sagen sollen. Sie wissen es selbst. Sie verdienen ihren Lebensunterhalt mit der Entwicklung von Geistigem: Gedanken, Behauptungen, Theorien und so weiter. Sie sehen keinen Widerspruch zwischen ihrem Denken und der Wirklichkeit. Wo aber der Widerspruch auftaucht, beherrschen sie die große Kunst, neue Sichtweisen zu entwickeln, die die Widersprüche aufheben. Darin besteht ihr Nutzen für die herrschende Ordnung.
Aber diese Aufgabe wird immer schwieriger, denn die Widersprüche zwischen diesen ihren Erklärungsversuchen und der Wirklichkeit selbst sind immer schwerer zu überbrücken. Man verhilft aber nicht der Wahrheit ans Licht, indem diesen Sichtweisen alternative entgegengestellt und diese als wahrer behauptet werden. Stattdessen muss solchen Ansichten die Wirklichkeit entgegengehalten werden, die Widersprüche zwischen dem verbreiteten Weltbild und der erkennbaren Wirklichkeit:
Wie kann sich die NATO von Russland bedroht fühlen, wo sie es doch selbst war, die immer näher an dessen Grenzen herangerückt ist? Wie kann Putin eine Bevölkerung einschüchtern, wenn diese zu Millionen die Welt bereist, im Ausland studiert, arbeitet, wohnt und zu Kriegsbeginn Hunderttausende das Land verlassen konnten? Diese Wirklichkeit passt nicht zu den verbreiteten Ansichten.
Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog Politische Analyse.
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Ifo-Präsident: "Kanonen und Butter, das geht nicht" – Aufrüstung versus Sozialstaat
Die Rhetorik, die von Deutschland Besitz ergriffen hat, ist erstaunlich nah am Jargon, den man in Nazi-Deutschland pflegte. So meinte der Chef des Wirtschaftsforschungsinstituts ifo, Clemens Fuest, in einer Sendung der Talkshow Maybrit Illner, "Kanonen und Butter – es wäre schön, wenn das ginge. Aber das ist Schlaraffenland, das geht nicht."
Mit diesem Zitat bezieht sich Fuest auf eine Aussage des Stellvertreters Hitlers, Rudolf Heß, von 1936. Man müsse an Fett, Fleisch und Eiern sparen, denn "wir wissen, dass die Devisen, die wir dadurch sparen, der Aufrüstung zugutekommen. Auch heute gilt die Parole: Kanonen statt Butter." Deutschland ist wieder da angelangt, wo es eigentlich nie wieder hin wollte.
Obwohl inzwischen einige Tage seit der Sendung vergangen sind, blieb der Aufschrei des sonst sehr auf politisch korrekte Wortwahl bedachten linksliberalen Milieus aus. Dem ehemaligen Linken-Politiker Oskar Lafontaine wurde dereinst für die Verwendung des Wortes "Fremdarbeiter" Nähe zum Faschismus und das Betreiben von Querfrontpolitik unterstellt. Mit einem Heß-Zitat im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zur Beschreibung dessen, was auf die sozial Schwachen in Deutschland zukommt, entlockt man dem urbanen Großstädter inzwischen jedoch keine moralische Empörung mehr. Deutsche Zustände 2024.
Fuest sagt, man kann nur eins haben: entweder Aufrüstung oder Sozialstaat. Beides zusammen ginge nicht. Wofür er sich entscheidet, ist angesichts der von Medien und Politik behaupteten "russischen Angriffspläne" klar. Man muss am Sozialstaat sparen, um sich gegen den potenziellen Angreifer zu wappnen.
In der Wochenzeitung Unsere Zeit bringt Ulf Immelt auf den Punkt, was auf Deutschland und die Deutschen zukommt:
"Die Logik, die hinter den Äußerungen des Präsidenten des arbeitgebernahen Wirtschaftsforschungsinstituts 'ifo' steckt, ist unmissverständlich: Jeder Euro, der in Soziales, Gesundheit oder Bildung investiert wird, fehlt für Aufrüstung und Stellvertreterkrieg. Jeder Cent, der in den Sozialetat fließt, schmälert die Profite von Rheinmetall und anderen Rüstungskonzernen und damit auch die Dividenden derjenigen, die an den Börsen auf die Fortsetzung des Mordens in der Ukraine, in Palästina und anderen Kriegsschauplätzen wetten."
Immelt verweist auf den Widerspruch zwischen der öffentlichen Debatte über einen angeblich ausufernden Sozialstaat einerseits und der gesellschaftlichen Realität andererseits.
Während CDU, FDP und die Arbeitgeberverbände weitere Einschnitte bei den Sozialleistungen fordern, spricht der kürzlich vorgestellte Bericht des Europarats eine ganz andere Sprache. Deutschland tue zu wenig, um Armut zu bekämpfen, heißt es dort in aller Nüchternheit. Der Europarat kommt für Deutschland zu dem Schluss, das hohe Ausmaß an Armut und sozialer Benachteiligung stehe in keinem Verhältnis zum Reichtum des Landes. Er fordert mehr Butter.
Das deckt sich mit einer Untersuchung der Hans-Böckler-Stiftung. Ihr zufolge sind die Ausgaben für Soziales in Deutschland weit weniger stark gestiegen als in den meisten anderen Ländern der OECD. Im Ranking belegt Deutschland den drittletzten Platz.
Das wird die Bundesregierung und die kooptierte Opposition aber kaum zu einer Kursänderung bewegen. Immelt schlussfolgert:
"In den Verlautbarungen der "Zeitenwendler" spielen solche ökonomischen Fakten keine Rolle. Schließlich erweisen sich Aufrüstung und Stellvertreterkrieg als äußerst wirksame Instrumente zur Umverteilung von unten nach oben. Während der militärisch-industrielle Komplex mit Milliardensummen subventioniert wird, bezahlen die arbeitenden Menschen hierzulande mit längerer Lebensarbeitszeit, geringeren Renten und schlechterer Absicherung von Arbeitslosigkeit und Armut – und die Menschen in den Kriegsgebieten häufig mit dem Leben."
Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen.
Europarat: Politik ignoriert soziale Schieflage in Deutschland
Von Susan Bonath
Armut, Wohnungsnot, Ausgrenzung: Wenn es um die Wahrung grundlegender sozialer Menschenrechte geht, kritisiert Deutschland gerne andere Länder. Doch die Schieflage im eigenen Land wird von der Politik am liebsten ignoriert. Diese habe sich zuletzt erneut zugespitzt, doch die Regierung unternehme viel zu wenig dagegen, rügte jüngst der Europarat.
"Soziale Rechte werden in Deutschland oft nicht als Grund- und Menschenrechte angesehen, die der Staat verwirklichen muss", kritisiert die europäische Menschenrechtskommissarin Dunja Mijatović in dem vor wenigen Tagen veröffentlichten neuen Bericht des Europarats. Ihr Zeugnis wirft ein miserables Licht auf den angeblich demokratischen Vorzeigestaat der EU. Eine besondere Schlagzeile war das den deutschen Leitmedien aber nicht wert.
Hetze statt Hilfe
Die Berichterstatterin mahnt insbesondere fehlende wirksame Strukturen in Deutschland an, die allen Einwohnern hinreichenden Zugang zu sozialen Grundrechten bieten. Die gravierendsten Mängel sieht sie beim Schutz vor Armut, Diskriminierung und Obdachlosigkeit. Die Lage auf dem Wohnungsmarkt spitze sich zulasten der ärmeren Teile der Bevölkerung immer weiter zu, ohne dass sich die Politik ausreichend bemühe, dem Abhilfe zu schaffen. Auch zu Bildung hätten Arme keinen angemessenen Zugang.
Der Europarat sei "besorgt" über eine hohe Zahl von Menschen in Deutschland, die in Armut lebten und von sozialer Ausgrenzung betroffen seien, heißt es. Dies stehe "in keinem Verhältnis zum Wohlstand des Landes". Die Einführung des Bürgergelds sei zwar ein Schritt in die richtige Richtung gewesen. Allerdings gleiche der aktuelle politische und mediale Diskurs einer Hetzkampagne gegen arme Menschen. Öffentlich kolportiert werde vor allem das Narrativ, wonach Arme ausschließlich selbst schuld an ihrer Lage seien.
Ausgrenzung der Schwächsten
Strukturelle Probleme hingegen, die zu dauerhafter Verarmung und Ausgrenzung führten, würden weitgehend ignoriert. Dies treffe die Schwächsten: Behinderte Menschen litten in fast allen Bundesländern unter mangelnden Teilhabemöglichkeiten, Migranten und Flüchtlinge hätten vielerorts kaum Zugang zu Integrationsangeboten, wie etwa Sprachkurse. Das sozial angespannte Klima fördere zahlreiche Formen rassistischer und sozialer Diskriminierung, heißt es.
Dazu gehöre auch eine wachsende Kinderarmut, die wiederum Wege zur Bildung und sonstigen sozialen Teilhabe versperre und oft zu dauerhafter Armut führe. Das Kindeswohl stehe bei Behörden oftmals nicht im Fokus, Rechte für Kinder seien trotz mehrfacher Anläufe weiterhin nicht in das Grundgesetz aufgenommen worden. In den meisten Bundesländern gebe es keine politischen Ansprechpartner für das Thema Kinderrechte, beklagte die Kommissarin. Sie fordert sofortige Abhilfe:
"Alle relevanten Akteure sollten auf zwischenbehördlicher und interministerieller Ebene zusammenarbeiten, um den Zugang zu sozialen Rechten zu verbessern, und die Rechtsinhaber sollten frühzeitig über ihre Ansprüche informiert und beraten werden."
Ignoranz von oben
Der Sozialrechtsexperte Harald Thomé vom Verein "Tacheles" bekräftigte die Warnungen des Europarats und rügte: Statt sich um effektive Gegenmaßnahmen zu bemühen, gössen Bundesregierung und ein Teil der Opposition weiter Öl ins Feuer. Thomé erklärte:
"Der derzeitige Kurs der Regierung und der Opposition sorgt dafür, dass sich Armut, Elend und Menschenrechtsverletzungen stetig verschärfen."
So beinhaltet der kürzlich verabschiedete Haushalt für 2024 zahlreiche weitere Maßnahmen des Sozialabbaus. Trotz eines anderslautenden Urteils des Bundesverfassungsgerichts von 2019 führte das Parlament damit etwa die 100-Prozent-Sanktionen als Bestrafungsinstrument gegen Bezieher von Bürgergeld, ehemals Hartz IV, wieder ein. Das ließ schon 2005 den Andrang an den privat organisierten Tafeln sowie die Obdachlosenzahlen explodieren. Kritiker werfen der Regierung vor, das höchste Gericht, somit das Grundgesetz zu umgehen.
Kein Plan gegen Wohnungsnot
Dass die Obdachlosigkeit zunimmt, findet Thomé nicht verwunderlich. Mit dafür verantwortlich seien viel zu niedrig angesetzte Mietobergrenzen für Menschen, die auf Sozialhilfe, Grundsicherung im Alter oder Bürgergeld angewiesen sind. Sie fänden keine Wohnung, die vom Amt akzeptiert werde, weil es diese vielerorts schlicht nicht gebe, bemängelte er.
Kurzfristige Abhilfe sei hier nur mit einer Erhöhung dieser Obergrenzen zu erreichen. Langfristig sei ein groß angelegtes Programm für den Bau von Sozialwohnungen notwendig, so der Sozialrechtler. Auch die europäische Menschenrechtskommissarin pochte auf "umfassende und langfristige Maßnahmen". Die deutsche Regierung müsse "alle zur Verfügung stehenden Mittel ergreifen, um Obdachlosigkeit zu verhindern und zu beseitigen". Notfalls müsse sie in den Wohnungsmarkt und in das Mietrecht eingreifen.
Bald Slums wie in den USA?
Besonderer Eifer beim Kampf gegen die Wohnungsnot ist in der Politik unterdessen nicht erkennbar. Sie hätte eigentlich schon längst mehr unternehmen müssen. Das Problem ist schließlich nicht erst seit der Bekanntgabe des neuen Berichts evident. Die Obdachlosenzahlen steigen bereits seit den 1990er-Jahren an. Kommunen verscherbelten ihre Wohnungen an Privatiers, andere verloren ihre Sozialbindung.
Ein wenig ähnelt die Entwicklung in Deutschland jener in den USA. Der dort seit den 1980er-Jahren exzessiv praktizierte neoliberale Kurs hat längst zu riesigen Slums und Elendsvierteln geführt. Um dies von Deutschland abzuwenden, bräuchte es wohl mehr als Lippenbekenntnisse.
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schweizer neutralität
es gibt eine schweizer volks-initiative, um die schweizerische neutralität in der verfassung zu verankern, die die schweizer regierung verspielt hat. ob das gelingt? der text von dagmar henn ist schon älter, aber sehr gut. mach dir einen kaffe/tee und höre dir ihren text an...
Schweiz: Mitmachen beim europäischen Selbstmord oder neutral bleiben?
von Dagmar Henn
Inzwischen sind ein weiteres Mal die Schweizer Neutralität und Waffenlieferungen an die Ukraine aufeinandergeprallt. Diesmal geht es um den Schweizer Schützenpanzer Piranha, den Dänemark im Bestand hat und von denen jetzt 20 Stück Richtung Kiew rollen sollen.
Die Entscheidung über die Legalität von Waffenexporten liegt in der Schweiz – wie in der Bundesrepublik – bei einer Abteilung des Wirtschaftsministeriums, dem SECO. Nachdem Dänemark beim Kauf dieser Schützenpanzer zugesichert hatte, sie nicht ohne Genehmigung weiterzuverkaufen, wird nun eine Erlaubnis des SECOs benötigt. Und sie wurde verweigert.
Wenn die dänischen Politiker darauf reagieren wie die deutschen, werden sie die Schweiz zur Genehmigung drängen. Der deutsche Wirtschaftsminister Habeck jedenfalls hat bei seinem Auftritt in Davos letzte Woche gefordert, er wünsche "maximale Unterstützung" für die Ukraine und seine Partei mit dem Satz "Wir müssen unsere eigene Haltung an der Wirklichkeit messen" dafür gepriesen, alle Reste friedenspolitischer Positionen endgültig entsorgt zu haben.
Der deutsche Fall, bei dem es um die Munition für den Flugabwehrpanzer Gepard geht, wird diese oder nächste Woche beim Schweizer Bundesrat entschieden werden, der die Entscheidungen des SECO überstimmen kann.
Allerdings, für die Schweiz geht es um weit mehr als um ein wenig Munition oder ein paar Panzer. Wenn man bedenkt, dass die Lieferung der Gepard-Panzer mitsamt Ausbildung der Mannschaften in Deutschland eigentlich die Grenze zur Kriegsbeteiligung überschreitet, ist leicht erkennbar, dass eine Implikation der Schweiz darin für die Neutralität verheerend ist. Schließlich gibt es Neutralität nicht dann, wenn sie erklärt wird, sondern nur dann, wenn sie von allen Seiten anerkannt wird. Man könnte fast vermuten, die Schweiz dürfe auf keinen Fall abseitsstehen, wenn sich der Rest Europas ein Messer in die Brust rammt.
Die Schweizer Neutralität hat eine lange Geschichte. Die Kernschweiz, die aus einem Aufstand gegen die Habsburger Herrschaft entstand und einen der frühesten bürgerlichen Staaten Europas bildete, entdeckte schnell, dass die einzige Art, sich sowohl gegen die Habsburger als auch gegen Frankreich zu behaupten, darin bestand, sich aus den Händeln in Europa im Großen und Ganzen herauszuhalten. Außerdem exportierte die Schweiz über lange Zeit Söldner; ein Überrest davon sind heute noch die Schweizer Garden des Vatikans; vor Jahrhunderten war das eine Möglichkeit, zum einen die eigene Bevölkerung möglichst verteidigungsbereit zu halten und zum anderen die Kosten dafür auf die Kundschaft abzuwälzen.
Immerhin, in all den Wirren mit Reformation, Dreißigjährigem Krieg bis hin zu Napoleons Feldzügen gelang es dem kleinen Staat auf diese Weise, erfolgreich zu bestehen. Und im Laufe der Zeit entwickelten sich daraus zwei besondere Einkommenszweige – die berühmt-berüchtigten Schweizer Banken mit ihren Nummernkonten, bereit, jedes Geld anzunehmen, ohne zu fragen, und die Rolle der Schweiz als Sitz diverser internationaler Institutionen, die mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz ihren Anfang nahm, unter denen sich heute auch (in Nachfolge des Völkerbunds) auch die UN, die OPCW, die Internationale Luftverkehrsvereinigung IATA und die Internationale Arbeitsorganisation ILO befinden. Da die Schweiz klein ist und viele solcher Organisationen beherbergt, ist auch das ein ganz realer Wirtschaftsfaktor.
Außer diesen beiden Sektoren hat die Schweiz noch hoch spezialisierte Industrie, beispielsweise (verblüffenderweise) den Bau von Schiffsturbinen und die Rüstungsindustrie. Für diese gelten natürlich die gleichen Folgen wie für Industrie an anderen Orten, was die Energieversorgung betrifft.
Natürlich war die Neutralität der Schweiz niemals vollkommen. Im Zweiten Weltkrieg gab es deutliche Sympathien für Nazi-Deutschland, und man war sehr hilfreich dabei, in ganz Europa zusammengeraubtes Vermögen über den Zusammenbruch des Hitlerreiches zu retten. Die damalige Weigerung, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen, ist ebenfalls bekannt. Die Gebrüder Dulles aus den USA trafen ihre Absprachen mit der Nazi-Elite, die das Nachkriegseuropa und den Kalten Krieg bestimmen sollte, ebenfalls in der Schweiz. Aber mit "Dora" befand sich auch eine der wichtigsten Spionagezentralen der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg dort und nutzte die Nähe zum Nazireich, um Verbindungen in den deutschen Widerstand zu knüpfen und kriegswichtige Informationen nach Moskau zu liefern.
Das Bankensystem der Schweiz profitierte gewaltig von der Neigung aller möglicher Diktatoren, ihre Vermögen dort unterzubringen. In Nigeria hieß es beispielsweise über den Militärdiktator Abacha, er habe 80 Milliarden Dollar außer Landes gebracht. Die Neutralität war und ist also auch der Hebel, über den die Schweiz sich eine Scheibe von den kolonialen Machtverhältnissen abschneiden kann, ohne selbst direkt daran beteiligt zu sein.
Außerdem sind zumindest halbwegs neutrale Orte immer wieder wichtig, wenn es um Verhandlungen geht. Diesen Ruf konnte die Schweiz jahrzehntelang wahren. Sie war während des gesamten Kalten Krieges kein Mitglied eines Militärbündnisses; das war die Voraussetzung dafür, dass sich so viele internationale Organisationen dort ansiedeln konnten. Die Unvollkommenheiten wurden dabei hingenommen.
Wenn jetzt diese Neutralität infrage gestellt wird, geschieht das zu einem Zeitpunkt, an dem die gesamte gegebene Struktur internationaler Organisationen bereits brüchig ist. Im Gegensatz zum Kalten Krieg scheint der Westen darauf bedacht, alles in Stücke zu hauen, das ein Zurück zu einer Kultur des Aushandelns ermöglicht. Das war bereits im Sommer 2014 zu sehen. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz äußerte nicht einmal leisen Protest, als Hilfslieferungen in den Donbass blockiert wurden, obwohl die Genfer Konventionen das klar untersagen. Auch als dann der erste große russische Hilfskonvoi kam und tagelang von ukrainischer Seite nicht über die Grenze gelassen wurde, war nichts aus der Schweiz zu hören.
Zu der zweifelhaften Rolle, die die OPCW (Organisation für das Verbot chemischer Waffen) unter anderem in Syrien spielte, findet sich andernorts mehr. Auch hier passierte das Gleiche – das Renommee wurde für einen kurzfristigen Vorteil verheizt. Ähnlich wurde in den letzten Jahren mit den Wiener Vereinbarungen verfahren, die den diplomatischen Umgang zwischen Ländern regeln. Das, was als "regelbasierte Weltordnung" so lautstark vertreten wird, beruht in Wirklichkeit auf der Aufhebung einer Regel nach der anderen.
Nun existiert die Diplomatie vor allem für eines – Kriege zu beenden. Je mehr Organisationen und Strukturen vom Westen in seinen Kreuzzug eingebunden werden, desto weniger Möglichkeiten bleiben für eine Rückkehr zur Diplomatie. Ein Ende der Schweizer Neutralität wäre dabei ein gravierender Schritt. Für die Schweiz würde das mindestens massive ökonomische Verluste bedeuten, für die globale Entwicklung würde es signalisieren, dass eine Rückkehr zum Frieden einzig über eine vollständige Niederlage des Westens möglich ist.
Die internationalen Organisationen wie die UN stehen ohnehin bereits vor einer Spaltung. Die Vehemenz, mit der die westlichen Kernländer ihre Positionen durchsetzen wollen, und ihre Verweigerung jeglicher Verhandlungsbereitschaft werden auf kürzere Frist bereits den Sitz New York unmöglich machen. Fällt die Schweizer Neutralität, käme auch Genf nicht mehr infrage. Ohne einen Tagungsort, der von beiden augenblicklich formierten Seiten getragen wird, hat die Organisation selbst keine Grundlage mehr.
Diese Neutralität wurde weder im Ersten noch im Zweiten Weltkrieg noch im Kalten Krieg angetastet, weil sie – siehe Raubgold – auch immer als Brücke in ein "Danach" nützlich war. Wenn sie jetzt um jeden Preis getilgt werden soll, signalisiert der kollektive Westen auch, dass er ein "Danach" nicht im Blick hat. Im Gegenteil, die Schweiz soll mit in den europäischen Selbstmordpakt gezwungen werden.
Es ist noch nicht klar, ob sich die Schweizer das antun werden. Laut Berichterstattung des Schweizer Fernsehens sind zumindest die SVP (Schweizerische Volkspartei) und die Grünen dagegen, während die Grünliberalen und die Mitte dafür sind.
Die nüchterne Tatsache, dass diese Lieferungen nur dazu dienen, die liefernden Länder tiefer in den Konflikt zu verstricken, aber am militärischen Resultat nichts ändern werden, spielt bisher auch in der Schweizer Debatte keine Rolle. Alles tut so, als würde an diesen Waffen das Schicksal der Ukraine hängen. Dem ist nicht so. Aber das der Schweiz sehr wohl.
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Russland verweigert der Schweiz ein lukratives politisches Geschäft
Von Geworg Mirsajan
Ein besonderes Merkmal des russisch-westlichen Konflikts der Spezialoperation in der Ukraine wegen ist der epidemische Verzicht von Staaten auf ihren neutralen Status.
Zunächst wurde dieser von Weißrussland aufgegeben, das die russische Spezialoperation unterstützte. Das Vorgehen von Minsk, das sich jahrelang von Moskaus Politik in der Ukraine distanziert hatte, ist zum Teil auf das extrem feindselige Verhalten Kiews in den letzten Jahren zurückzuführen. Jedoch lässt sich das Verhalten Schwedens und Finnlands, die mit großer Eile in die NATO drängen, kaum rational erklären, abgesehen vom Druck der Vereinigten Staaten, die einen diplomatischen Sieg brauchen.
Nun erklärte das Ministerium für auswärtige Angelegenheiten Russlands, ein weiteres Land habe seinen neutralen Status verloren, nämlich die Schweiz. Und auch in diesem Fall zum eigenen Nachteil. Tasächlich ist Neutralität in internationalen Konflikten keine Feigheit oder Wohltätigkeit, sondern ein ziemlich profitables Geschäft. In den Konflikten übernehmen die neutralen Länder im Auftrag der streitenden Seiten die bedeutendsten Aufgaben und verdienen damit gutes Geld.
Zum einen finden auf ihrem Territorium offene diplomatische Verhandlungen statt, wodurch das Gastland für eine gewisse Zeit in den Mittelpunkt der internationalen Politik rückt, was entsprechende Vorteile mit sich bringt. Oft herrscht ein echter Konkurrenzkampf um die Vermittlerrolle. Zum anderen finden technische Verhandlungen statt, die der Öffentlichkeit verborgen bleiben, was die Interaktion und das Vertrauen zwischen dem Gastland und den Konfliktparteien fördert.
Zudem fließen verschiedenartige Finanz- und Handelsströme durch neutrale Länder in diejenigen Staaten, die wegen eines Konflikts mit anderen Ländern unter Sanktionen stehen. Dazu zählen die Ströme zwischen den sanktionierten Staaten und denen, welche die Sanktionen verhängt haben. Und das kann ein sehr lukratives Geschäft sein.
Es überrascht also nicht, dass sich Alexander Lukaschenko im Jahr 2014 sehr bemüht hatte, Weißrussland zum neutralen Ort für Verhandlungen zur Beilegung des ukrainischen Bürgerkriegs zu machen. Er hatte sich gegen Kasachstan durchgesetzt. Wenig überraschend ist, dass dasselbe Finnland während des Kalten Krieges einen neutralen Status gehabt und profitable Geschäfte mit der UdSSR gemacht hatte.
Der größte Guru im Geschäft mit der Neutralität ist jedoch die Schweiz, die seit Jahrzehnten damit Geld verdient. Gerade die Schweiz hatte das Nazigold gehortet. In der Schweiz hatte der Austausch von Spionen verschiedener Art stattgefunden, unter anderem während des Kalten Krieges. Die Schweizer Botschaften beherbergen in der Regel die "Interessenabteilungen" derjenigen Länder, die keine diplomatischen Beziehungen unterhalten (z. B. vertreten die Schweizer heute die russischen Interessen in Georgien und die Interessen der USA in Iran). Und letztendlich befinden sich in der Schweiz die Büros von Hunderten zwischenstaatlichen und regierungsunabhängigen Organisationen, die es vorziehen, a) im Zentrum Europas und b) in einem Land zu arbeiten, in dem Gesetz und Gerechtigkeit Vorrang gegenüber Werten und Ideologien haben.
Allerdings hat die Schweiz seit Februar 2022 offiziell ihre Haltung geändert, nachdem sie, wie viele andere westliche Länder, unter den enormen Druck des Westens geraten war, Sanktionen gegen Moskau zu verhängen.
"Der beispiellose militärische Angriff Russlands auf ein souveränes europäisches Land hat im Bundesrat den Ausschlag gegeben, die bisherige Sanktionspraxis zu ändern. Die Verteidigung von Frieden und Sicherheit und die Achtung des Völkerrechts sind Werte, die die Schweiz als demokratisches Land mit ihren europäischen Nachbarn teilt und mitträgt", so der Schweizer Bundesrat in einer Erklärung. Folglich schloss sich das Land den antirussischen Sanktionen an und stimmte sie teilweise mit denen der Europäischen Union ab.
Nicht alle Schweizer Politiker waren mit dieser Position einverstanden. Eine Reihe politischer Akteure hat erklärt, dass die antirussischen Sanktionen gegen die Verfassung des Landes und den Grundsatz der "immerwährenden Neutralität" verstoßen.
Der Bundesrat stimmte dem jedoch nicht zu. "Die Neutralität hat zum Ziel, die Sicherheit und Unabhängigkeit der Schweiz zu schützen. Die Neutralitätspolitik bietet einen gewissen Spielraum, denn sie erlaubt es, die Neutralität so zu interpretieren, wie es diesem Zweck am besten dient", so das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) in einem Bericht.
Im Grunde genommen kann also die Schweiz sogar Waffen an die Ukraine liefern, genauso wie sie Waffen an Saudi-Arabien für den Krieg im Jemen liefert. Zwar sehen die Schweizer zurzeit von solchen Schritten ab, doch ihren eigenen Worten zufolge "gilt das Neutralitätsrecht nicht für den Konflikt im Jemen, da es sich nicht um einen Krieg zwischen zwei Staaten, sondern um einen internen Konflikt handelt" – und die Ukraine und Russland befinden sich, wie wir uns erinnern, formell nicht im Krieg miteinander. Weder Kiew noch Moskau haben der Gegenseite den Krieg erklärt.
Die Schweizer sehen in dieser Situation nichts Anstößiges daran, im russisch-ukrainischen Konflikt politisch zu punkten – unter anderem durch die Vermittlung von Verhandlungen oder diplomatischen Beziehungen zwischen den Ländern. Überdies wird dies noch als ein Gefallen dargestellt, den sie Moskau erweisen können. "Die Guten Dienste im Allgemeinen und die Mediation im Besonderen sind wichtige Bestandteile der Schweizer Außenpolitik. Die Schweiz wird weiterhin für solche Aufgaben zur Verfügung stehen. Sie sind aber nicht die Existenzberechtigung der Schweizer Außenpolitik und dürfen nicht als Feigenblatt herhalten", steht in einem Bericht des EDA.
Darüber hinaus macht die Schweiz deutlich, dass ihre Vertretung eine beschlossene Sache ist. "Die Ukraine hat den Wunsch geäußert, dass die Schweiz ihre Interessen in Russland vertritt. Die entsprechenden Verhandlungen sind abgeschlossen. Damit dieses Abkommen in Kraft treten kann, muss Russland seine Zustimmung geben", so die Diplomaten dort.
Moskau erklärte jedoch, derartige Dienste nicht zu benötigen. "Leider hat die Schweiz den Status der Neutralität eingebüßt und kann weder als Mediator noch als Interessenvertreter auftreten", sagte der stellvertretende Direktor der Informations- und Presseabteilung des russischen Außenministeriums Iwan Netschajew. Und er fügte hinzu, dass die Schweizer mit Kiew Verhandlungen führten, obwohl sie die Haltung Russlands zu ihren Vermittlungschancen sehr genau kannten.
So zahlt also die Schweizerische Eidgenossenschaft ihren Preis für die Weigerung, im russisch-westlichen Konflikt neutral zu sein. Genau wie die Finnen und Schweden den Preis für ihre Absage an die Neutralität zahlen, denn die Türkei brachte sie durch eigene Bedingungen für den NATO-Beitritt in eine äußerst schwierige und unschickliche Lage. Alles, was man hätte machen müssen, war, den Pragmatismus über die deklarativen Werte zu stellen.
Übersetzt aus dem Russischen
Geworg Mirsajan ist Außerordentlicher Professor an der Finanzuniversität der Regierung der Russischen Föderation, Politikwissenschaftler und eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens. Geboren wurde Mirsajan 1984 in Taschkent. Seinen Abschluss machte er an der Staatlichen Universität in Kuban. Er promovierte in Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Vereinigte Staaten. Er war von 2005 bis 2016 Forscher am Institut für die Vereinigten Staaten und Kanada der Russischen Akademie der Wissenschaften.
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