Im Leben der Völker gibt es magische Zeiten. Auf einmal erheben sich die sonst resignierten, seit langem niedergeschlagenen Corinnes, Carines, Khaleds, Rémis, Denis, Cindys, Maries. Sie stehen auf gegen die Ewigkeit eines unabwendbaren Schicksals. Sie verbinden sich und verbünden sich. Ihre angesammelte private Schmach verwandelt sich in öffentliche Wut. Sie setzen ihre Körper, Sperren, Hütten gegen ihre Herren, ihre Herrscher, die Macht. Aber vor allem ihre Stimmen: Die Worte befreien sich, entfesseln sich und fordern einen Teil des Glücks. Es ist ein Blitz, der die schwarze Nacht der Geschichte erhellt. Ein gelber, neonleuchtender Blitz, der nur einen Augenblick anhält, aber sich in die Erinnerungen einbrennt. Hinter dem Donner erschallt dieses Wort: Hoffnung. Gleich einer riskanten Jagd auf Schmetterlinge brechen Gilles Perret und François Ruffin für ein Road-Movie durch das heutige Frankreich auf. Als Fangnetz haben sie eine Kamera dabei, um diesen magischen Moment, das Lebendige in den Gesichtern und Stimmen der Corinnes, Carines, Khaleds, Rémis, Denis, Cindys, Maries einzufangen.
Fakir: Wie hat euer Filmprojekt begonnen?
Gilles Perret: Durch einen Zufall. Ich hing bei der Nationalversammlung herum, ich hatte einen Termin in der Ecke, und da traf ich François, der zu mir sagte: „Kommst du mit uns in die Kantine?“ Zwischen geriebenen Karotten und Île flottante sprachen sie über eine Fahrt durch Frankreich.
François Ruffin: Naja. Ich wusste, dass das Land einen magischen, ungewissen Moment erlebte, also hielt ich mir Mitte Dezember eine Woche frei, um die Straßen abzufahren und diesen Moment voll auszukosten. Um ein Buch zu füttern.
Perret: Diese „Gelbwesten“ reizten mich auch. Ich empfand Sympathie für sie. Bestimmt, weil wir beide auch aus der Provinz sind, einer aus der Savoie und der andere aus dem Norden, wir haben nicht diese leicht hochmütige, wertende Art der Pariser. Am 17. November bin ich über Kreisverkehre gefahren und entdeckte Gesichter, die man sonst nie auf Demos sah. Ich erinnere mich an ein Paar an der Mautstation von Annecy – mit einem breiten Lächeln – ein freudiger Anblick, den man nicht oft auf Demos sieht. Sie sind nie rausgegangen, und jetzt existieren sie! Also schlage ich François während des Essens vor, ihm mit einer Kamera zu folgen: Und er sagt „nein“, dieser Idiot!
Ruffin: Na klar. Also zuerst einmal habe ich genug davon, immer Kameras und Mikros am Hintern kleben zu haben, da fühle ich mich überwacht, ich überwache mich selbst. Ich bevorzugte die Art „einsamer Cowboy“ ...
Perret: Aber ich habe nicht locker gelassen ...
Ruffin: Vor allem wollte ich keinen Film über mich. Das Thema sind wirklich die Leute. Sie erwachen endlich. Was ist mit ihnen los? Ich biete mich gern als roter Faden an, im wahrsten Sinne (der französische Ausdruck bedeutet „fahrender Faden“, Anmerkung der Übersetzerin), denn ich fahre meinen Berlingo von der Picardie bis in den Süden, es ist okay, wenn man durch meine Augen sieht, über meine Schulter, aber die Helden, das sind sie! Das sind Cindy, Marie, Loïc, mit ihren Geschichten, die jedes Mal überraschen ... Ich glaube, es ist ein Liebesfilm. Ich möchte diesen Menschen sagen: „Ich liebe Euch“, diese seit so langer Zeit resignierten, verachteten Menschen, die sich jetzt erheben. Ich liebte sie auch schon vorher, doch jetzt zeigen wir ihre Schönheit, ihren Stolz.
Die explosive Kraft der Worte
Perret: Es ist komisch, denn auf dem Papier ist es sehr hässlich: Ein Frankreich der Kreisverkehre, der Autobahnen, der Stadtränder, im Regen, im Matsch, mit Plastikplanen, elenden Notunterkünften ... Und auf einmal ist es schön, da es mit Leben gefüllt wird. Ich denke, wir liefern das: Wir gehen in die Intimität, mit einer großen Nähe, denn die Verbindung zwischen François und den Leuten passt, sie lachen, es gibt Gefühle. Und auch technisch bin ich allein, ohne Tontechniker, ich kann näher an die Menschen heran, an ihre Gesichtszüge, ihre Stimme, ganz nah ...
Und wann ging es los?
Perret: Wir haben uns Mittwoch getroffen und sind am Sonntag losgefahren.
Ruffin: Genug Zeit, um meine Bremsbeläge auswechseln zu lassen.
Und wohin?
Ruffin: In den Süden. Wenn man in der Picardie wohnt und losfährt, kann man nur in Richtung Süden fahren. Wir hatten nicht wirklich ein Ziel, nur Etappen auf dem Weg: die Alpen für Gilles, Pierre in der Ardèche, Gillaume bei Montpellier ... Und das gefiel uns, diese Irrfahrt. Im Dasein, in unseren viel beschäftigten Leben, sind die Momente des Umherirrens sehr selten. In der Filmkunst gibt es zwei Arten von Filmen, die ich liebe: die im geschlossenen Raum gedrehten und Road-Movies. Naja, in der Nationalversammlung habe ich meine Dosis an geschlossenem Raum, also öffnen wir uns hier für die weite Ferne ...
Perret: Wir öffnen uns vor allem gegenüber den Menschen, sie packen ihr Leben aus. Ab der ersten Sequenz, in Albert, haben wir eine Sache: eine Dame, Carine, RSA-Empfängerin (RSA entspricht dem deutschen Hartz IV, Anmerkung der Übersetzerin) mit einem behinderten Kind, die uns erklärt, wie sie dank der Bingo-Lose überlebt ...
???
Perret: Kennt ihr das nicht? Das sind die Bingo-Spiele in den Stadthallen. Sie gewinnt Supermarktgutscheine und so ernährt sie ihre Familie. Ich möchte damit sagen, dass es im Gewöhnlichen etwas Außergewöhnliches gibt. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie die Menschen leben. An jedem Kreisverkehr hatten wir den Eindruck, ein Überraschungspaket zu entdecken ...
Ruffin: Weißt du, ich porträtiere diese Menschen, dieses Frankreich, seit zwanzig Jahren für Fakir, aber ihre Worte musste ich ihnen aus der Nase ziehen. Sie flüsterten im geschlossenen Raum ihrer Wohnung, da sie sich schämten. Sie schämten sich, weil sie nicht über die Runden kamen. Sie schämten sich, weil sie ihren Kindern keinen Urlaub bezahlen konnten. Sie schämten sich, dass sie ein Essen ausfallen ließen, weil der Kühlschrank leer war, zum Unglück kommt die Scham dazu. Ich musste ihnen die Anonymität garantieren, damit man sie in ihrem Viertel oder ihrem Dorf nicht wieder erkennt ... Die Armen verstecken sich, um zu leiden. Und auf einmal macht sich dieses unsichtbare Frankreich sichtbar, ultra-sichtbar, selbst in der Nacht, mit Leuchtwesten! Auf einmal besetzten sie den öffentlichen Raum, die Kreisverkehre und sogar die Fernsehshows! Und vor allem sprachen sie, schrien sie, schimpften sie ... Ein großes Entladen. Es ist eine Zeit der Befreiung, zunächst der Befreiung der Worte, wie eine Staumauer, die bricht, und für einen Reporter ist das natürlich ein Traum, er muss nur noch das Mikro hinhalten. Es erinnerte mich an Sätze von Philippe Gavi, einem Gründer der Liberation in den siebziger Jahren: Er wollte einen „demokratischen Alltag, der dem Volk die Stimme gibt, den Arbeitern, den Streikenden, den Bauern“, der „nicht mehr mit Stereotypen von ‚Revolution‘ sprechen würde, mit vorgefertigten Ideen, glorifizierenden Beteuerungen, sondern mit all der explosiven Kraft, die die Worte entfalten, wenn die Fantasie und die Wirklichkeit mit den Worten verschmelzen“. Das haben wir gefunden, „Die ganze explosive Kraft der Worte“!
Perret: Ich würde noch etwas hinzufügen: Diese Männer und Frauen ... wir haben sehr viele Frauen ... sie erzählen nicht nur von ihrem Elend, dem liegt ein Kampf zugrunde, in ihrem Inneren, zwischen Verzweiflung und Hoffnung: Wird sich das ändern? Sie zweifeln, sie glauben daran, beides zugleich. Nicht nur für sich, für ihre Kinder, für die Gesellschaft, und sie sprechen von Harmonie, von Verbindungen und Brüderlichkeit. Diese Worte entfalten in ihren Mündern eine Kraft, denn sie sind nicht mehr abstrakt, irgendwelche Konzepte, sie werden von ihren Geschichten über Besiegte verkörpert. Ich denke an David, einen Selbstständigen, ein Kunsthandwerker, bis zum Hals in der Misere, Secours Populaire (französische Hilfsorganisation für die Armen, Anmerkung der Übersetzerin) und Co: Am Abend, wenn er nach Hause kommt, nach dem Kohlenbecken, liest er die Verfassung! Mit dem Wörterbuch daneben! Das ist ein Anzeichen für einen revolutionären Moment, oder? Dieser plötzliche Reifeprozess?
Ruffin: Ach, die Revolution, also ich finde, sie wird so oft angekündigt ... Aber letztendlich schwebt über dem Land eine sehr besondere Stimmung. Eine Szene verdeutlicht das. Wir sind an der Mautstation von La Barque in der Nähe von Marseille, in der Nacht, um zurück auf die Autobahn zu fahren. Wir kennen niemanden und wir wollen nicht zu den „Leadern“ ... Also steigen wir in irgendein Auto ein: eine zarte Frau um die Fünfzig, gut frisiert und geschminkt, zwei Uhr morgens, in einem hübschen Mantel, einem hübschen Auto ... Kurz gesagt: Sie könnte meine Mutter sein. Sie hatte eine Bäckerei, jetzt arbeitet sie im Pflegedienst, sie war noch nie demonstrieren ... Und auf einmal stiehlt sie im Mondschein Verkehrskegel! Um Lkw zu blockieren! „Was bringt Sie dazu, kriminell zu werden?“, fragen wir sie. Sie lächelt: „Nein. Wir holen uns die Macht zurück.“ Sie hatte im Stillen nur Wut und Leid angesammelt. Wenn eine so normale, so ruhige Person am Aufstand teilnimmt, heißt das, dass etwas los ist.
Perret: Eine andere Begegnung hatte die gleiche Wirkung auf mich. In Mâcon, ein Opa mit Baseballkappe, aber genauso ruhig. Er dachte daran, aber ganz im Ernst, riesige Metallplatten zu bauen, die man vor die Bulldozer macht, die nach Paris fahren. Die Bereitschaftspolizei müsste zurückweichen und so könnten sie bis zum Elysée kommen. Er dachte über diesen Plan nach, den er wohlüberlegt aussprach ... Wir, mit unseren „linken“ Gewohnheiten, hatten uns Grenzen gesetzt, wir übernehmen die Kodizes der Demonstranten und dann sind wir es gewohnt zu verlieren, aber für sie ist alles möglich. Wenn der Durchschnittsfranzose sich für Lenin hält!
Was wird aus der Bewegung eurer Meinung nach?
Ruffin: Ich habe keine Ahnung. Es gibt sie, es hat sie gegeben, und das ist schon ein Wunder. Übrigens geht es in unserem Film nicht um „die Bewegung der Gelbwesten“: Wie sind sie entstanden? Wer sind ihre Sprecher? Wie organisieren sie sich? Was sind ihre Forderungen? Das lassen wir beiseite.
Perret: Es ist ein menschlicher Film, scheint mir, ein humanistischer. Wir betrachten mit unserer Sensibilität Frauen und Männer, die eine gelbe Weste tragen ...
Er ist also nicht politisch! Nicht engagiert ...
Ruffin: Im Gegenteil, er ist meines Erachtens zutiefst politisch. Kunst zu machen, selbst Filmkunst ... Denn, das sage ich voller Stolz, wir machen einen künstlerischen Film mit einer Ästhetik und Erzählung ... Kunst zu machen mit Männern und Frauen, die sonst unsichtbar sind, ihnen diesen Platz zu geben, das ist Politik. Wir geben ihnen eine gewisse Schönheit, einen gewissen Stolz. Diese Schönheit, dieser Stolz, die die anderen, BFM (französischer Nachrichtensender, Anmerkung der Übersetzerin), France Info, die Minister, die Leitartikler nicht in der Lage sind zu sehen. Sie beobachten die Gelbwesten von weitem, von ihrer Radiostation aus, und sie bewerten sie im Voraus, mit Herablassung: einfach Gestrickte, Faschos, Randalierer, „Radikalisierte“. Zum Beispiel haben sie die Verbindungen, die entstehen, nicht gesehen, nicht verteidigt ...
Das heißt ...?
Perret: Na, worüber sprechen denn die Leute auf den Kreisverkehren? Über die Verbindung zwischen ihnen, die Einsamkeit, die sie empfinden, wie sehr sie sich über dem Kohlenbecken die Hände wärmen, aber vor allem das Herz. Sie sprechen nicht nur darüber, sie erleben es, sie bauen Hütten zusammen, sie essen zusammen, sie teilen ihre Freude und ihr Leid ...
Ruffin: Und du hast achtzig Philosophen, einen Haufen Politiker, gute Seelen, die das ganze Jahr herumfaseln: „Man muss den sozialen Zusammenhalt wieder herstellen“, aber dann, wenn es passiert, kein Wort des Lobes! Um es zu bewahren, zu beschützen ... Und was macht Macron?
Na endlich! Der hat uns schon gefehlt! Ist Macron in eurem Film?
Perret: Ja, in Archivbildern, und manchmal spielt François Macron ...
Ruffin: Er sorgt für Kontrast, beinahe Komik. Er ist so klein, so armselig, im Vergleich zu den großzügigen Menschen, die wir treffen! Eine Redewendung leitet mich für den Schnitt, ein Satz von Victor Hugo: „Die Hölle der Armen bildet das Paradies der Reichen.“ Also muss man wie in einer Wechseldusche von einer Welt in die andere wechseln, selbst ganz kurz.
Den Ort und die Verbindung zerstören
Perret: Damit man weiß, woher die Gewalt kommt, dass Armut nicht unabwendbar ist.
Ruffin: Genau. Aber ich komme noch einmal auf meine Hütten zurück. Macron schafft seine Grabenbagger, seine Polizei heran, zerstört die Hütten der Armen ... Denn, ganz ehrlich, diese hässlichen Dinger in seiner Start-up-Nation sehen für die Amerikaner, die aus dem Flugzeug steigen, aus wie Chaos ... Und er weiß, dass wenn er den Ort zerstört, dann zerstört er auch die Verbindung. Das ich furchtbar, finde ich. Das war eine super-friedliche Form des Protests, man baut Hütten, wie Kinder. Das deutet auf ein volkstümliches Handwerk hin, mit Paletten des Automobilzulieferers Valéo und Türen aus einem Lager der SNCF (französische Bahngesellschaft, Anmerkung der Übersetzerin) bauen sie eine kleine Burg. Sie besetzen den Platz mit ihren Körpern. Und das macht man dem Erdboden gleich, das zeugt von einer Brutalität. Hast du in den Medien gehört, wie sich all diese Professoren des „sozialen Zusammenhalts“ empörten? Nichts. Sie haben geschwiegen, sie haben nicht einmal etwas von dieser Schönheit, von diesem Stolz gesehen, geschweige denn verstanden.
Perret: Selbst unsere Kameraden aus der Linken, die haben wir nicht bei den Gelbwesten gesehen. Oder sehr spät. Oder mit Argwohn. Denn es ist eine Bewegung, die keinem Standard entspricht.
Ruffin: Im allgemeineren Sinne ist es die ganze Mittelschicht, die Gebildeten, die Kultivierten, die diese Bewegung mit Misstrauen und Distanz hinterfragte. Das überrascht mich nicht, denn ich kenne diese Abgrenzung zur Unterschicht auswendig. Ich mache mir da keine Illusion: Wen wird unser Film in den Kinos berühren? Vor allem diese gebildete, kultivierte Mittelschicht. Aber umso besser. Umso besser, denn sie muss sie sehen, diese Männer und Frauen, und sich sagen: „Sie ähneln mir. Ich bin bei ihnen.“ Da Gilles Lenin zitierte – Wladimir Iljitsch sagte: „Eine pre-revolutionäre Situation platzt, wenn die oben nicht mehr können, die unten nicht mehr wollen und die in der Mitte zu denen nach unten kippen.“ Die in der Mitte sind nicht gekippt. Sie haben stillschweigend die oben unterstützt, zumindest durch ihre Enthaltung, durch ihr Schweigen.
Doch jetzt ist es zu spät, oder?
Perret: Es gibt einen Satz von Howard Zinn: „Solange die Kaninchen keine Historiker haben, wird die Geschichte von den Jägern erzählt.“ Welche Spur davon haben wir bewahrt? Welche kollektive Geschichte haben wir daraus gemacht? Welchen Samen für morgen gesät? Diese Geschichte, diese Erinnerung darf nicht nur BFM anvertraut werden.
Ruffin: Genau. Denn das ist nicht vorbei, das ist sicher. Das ist ein Kampf mit langem Atem, der zwischen der Demokratie und der Oligarchie geführt wird. Wir sind heute Zeugen seiner autoritären Verschärfung, eines Konflikts, der sich zuspitzt. Und ich bin überzeugt, fest davon überzeugt, dass Worte, Bücher, Bilder, Filme in diesem Kampf die Waffen sind.
Gilles Perret drehte zahlreiche Dokumentarfilme, darunter „Ma Mondialisation“, „Les Jours heureux“, „La Sociale“, „L’Insoumis“.
François Ruffin ist Reporter für Fakir, Abgeordneter für das Département Somme und erhielt den César für seinen Film „Merci patron!“.
Redaktionelle Anmerkung: Der Film, um den es in diesem Interview geht, erscheint am 3. April 2019 in den französischen Kinos. Mehrere Aufführungsorte haben bereits aus Angst vor „Ausschreitungen“ abgesagt. Ruffin versteht sie, denn genau das soll der Film schließlich bewirken: dass die Bewegung wieder an Kraft gewinnt und die Menschen sich auf den Straßen verbünden (1).