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Analysen 14.-21.8.2024: Escobar: BRICS-Trio treibt Israel in die Enge/ Alastair Crooke: Revisionistische Zionisten + die USA/ Der Kapitalismus hustet/ Kropotkin: Die gegenseitige Hilfe/ Föderalismus: Vorbild Schweiz/ Russlandreise

inhaltsverzeichnis: 

Pepe Escobar: Wie ein BRICS-Trio Israel in die Enge treibt Während sich Israel auf der internationalen Bühne zunehmend isoliert, koordinieren die BRICS-Mitglieder Iran, Russland und China im Stillen ein umfassendes Programm zur diplomatischen und militärischen Unterstützung Palästinas.

israel: die religiösen fanatiker in aktion - sehr gute analyse
wie die religiösen fanatiker versuchen, einen weltkrieg zu inszenieren und die USA dabei hineinzuziehen...
Alastair Crooke: Revisionistische Zionisten fordern die USA auf, ihrer Nakba-Agenda den Stecker zu ziehen Amerika sitzt in der Falle. Die Machthaber sind unglücklich, aber ohnmächtig. 19. August 2024 Von Alastair Crooke - übernommen von strategic-culture.su 19. August 2024

Von Rüdiger Rauls: Der Kapitalismus hustet – Was der Zusammenbruch der Tokioter Börse offenbart  17 Aug. 2024 15:18 Uhr   Der Zusammenbruch der Tokioter Börse hat erneut gezeigt, wie ungesund Kapitalismus sein kann. Vor allem, wenn er sich regelmäßig durch kreative Geldanlage-Strategien am Leben erhalten muss. Braucht es eine neue Form desselben oder gar ein gänzlich neues Konzept für gemeinschaftliches Wirtschaften? In Japan bricht die Börse zwischenzeitlich um zwölf Prozent ein. Weltweit verzeichnen die Finanzplätze starke Abschläge. Hat der Kapitalismus nur Husten oder ist es Schlimmeres? Die Schärfe der Kursstürze deutet auf ein hohes Maß an Verunsicherung hin.

Die gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt  – Peter Kropotkin Eine wichtige Widerlegung des so oft missbräuchlich verwendeten Begriffs des Sozialdarwinismus  Rezension von Matthias Bröckers 07. 02. 2013  18. April 2013  Seine Prophezeiung jedoch, dass Fortschritte im wissenschaftlichen Instrumentarium wie etwa der Mikroskopie noch viele weitere Belege für die natürliche „gegenseitige Hilfe” als Motor der Evolution bringen würden, hat sich ein Jahrhundert später mehr als bestätigt.

Der Föderalismus als Friedensgarantie und das Vorbild der Schweiz «So ist eine Konföderation eine Friedensgarantie sowohl für ihre eigenen Mitglieder als auch für ihre nicht mit ihr verbündeten Nachbarn» 2013 von Dr. phil. René Roca, Historiker, Forschungsinstitut direkte Demokratie . aus Zeit-Fragen.ch 11. September 2013

 


 

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hoto Credit: The Cradle)

Pepe Escobar: Wie ein BRICS-Trio Israel in die Enge treibt   Während sich Israel auf der internationalen Bühne zunehmend isoliert, koordinieren die BRICS-Mitglieder Iran, Russland und China im Stillen ein umfassendes Programm zur diplomatischen und militärischen Unterstützung Palästinas.   

15. August 2024  – übernommen von thecradle.co   Die globale Mehrheit ist sich darüber im Klaren, dass die Völkermörder in Tel Aviv mit allen Mitteln versuchen, einen apokalyptischen Krieg zu provozieren – natürlich mit voller militärischer Unterstützung der USA.

Stellen Sie diese kämpferische Denkweise der 2.500 Jahre alten persischen Diplomatie gegenüber. Der amtierende iranische Außenminister Ali Bagheri Kani hat kürzlich erklärt, dass Teheran alles daran setzt, „den ‚Traum‘ des israelischen Regimes, einen totalen regionalen Krieg auszulösen“, zu verhindern.

Aber man sollte den Feind nie stören, wenn er in völliger Panik ist. Sun Tzu hätte dieser Maxime zugestimmt. Der Iran wird sich sicherlich nicht einmischen, wenn die USA und die G7-Mitglieder alle Register ziehen, um eine Art Waffenstillstandsabkommen zwischen der Hamas und Israel für den Gazastreifen auszuhandeln, um eine ernsthafte militärische Vergeltung durch den Iran und die Achse des Widerstands zu verhindern.

Anfang dieser Woche trug diese Warnung Früchte: Der Hamas-Vertreter im Libanon, Ahmed Abdel Hadi, teilte gestern mit, dass die Hamas bei der vorläufigen Verhandlungsrunde am Donnerstag   – also heute   – nicht auftauchen wird. Der Grund?

„Das klare Klima ist voller Täuschung und Verzögerung seitens Netanjahu, der auf Zeit spielt, während die Achse eine Antwort auf die Ermordung der Märtyrer [Hamas-Politbürochef Ismail] Haniyeh und [Hisbollah-Militärkommandeur Fuad] Shukr vorbereitet... [Hamas] wird sich nicht auf Verhandlungen einlassen, die Netanjahu und seiner extremistischen Regierung Deckung bieten.“

Das Wartespiel, eigentlich eine Meisterleistung strategischer Zweideutigkeit, um Israels Nerven zu strapazieren, wird also weitergehen. Unter all dem billigen Drama des kollektiven Westens, der den Iran anfleht, nicht zu reagieren, gibt es eine Leere. Im Gegenzug wird nichts angeboten.

Schlimmer noch. Washingtons europäische Vasallen   – das Vereinigte Königreich, Frankreich und Deutschland   – gaben eine Erklärung ab, die direkt aus der Verzweiflungsreihe stammt, in der sie „den Iran und seine Verbündeten auffordern, von Angriffen abzusehen, die die regionalen Spannungen weiter verschärfen und die Möglichkeit gefährden würden, einen Waffenstillstand und die Freilassung der Geiseln zu vereinbaren. Sie werden die Verantwortung für Handlungen tragen, die diese Chance auf Frieden und Stabilität gefährden. Kein Land und keine Nation profitiert von einer weiteren Eskalation im Nahen Osten.“

Vorhersehbarerweise kein einziges Wort über Israel. In dieser neo-orwellschen Formulierung ist es, als ob die aufgezeichnete Geschichte des Planeten begann, als der Iran ankündigte, Vergeltung für die Ermordung von Haniyeh in Teheran zu üben.

Die iranische Diplomatie antwortete den Vasallen rasch und betonte ihr „anerkanntes Recht“, die nationale Souveränität zu verteidigen und Abschreckung gegen Israel, die eigentliche Quelle des Terrorismus in Westasien, zu schaffen. Und vor allem betonte man, dass man „von niemandem eine Erlaubnis“ für die Ausübung dieses Rechts einhole.

Der Kern der Sache entzieht sich vorhersehbar der westlichen Logik: Hätte Washington im vergangenen Jahr einen Waffenstillstand im Gazastreifen erzwungen, wäre die Gefahr eines apokalyptischen Krieges, der Westasien erschüttert, vermieden worden.

Stattdessen genehmigten die USA am Mittwoch ein weiteres Waffenpaket im Wert von 20 Milliarden Dollar für Tel Aviv, was genau zeigt, wie sehr sich die Amerikaner für einen dauerhaften Waffenstillstand einsetzen.

Palästina trifft die BRICS

Die israelischen Provokationen, insbesondere die Ermordung von Haniyeh, waren ein direkter Affront gegen drei führende BRICS-Mitglieder: Iran, Russland und China.

Die Reaktion auf Israel impliziert also eine konzertierte Aktion des Trios, die sich aus den miteinander verflochtenen umfassenden strategischen Partnerschaften ergibt.

Zuvor hatte der chinesische Außenminister Wang Yi am Montag ein wichtiges Telefongespräch mit dem amtierenden iranischen Außenminister Ali Bagheri Kani geführt, in dem er alle Bemühungen Teherans um Frieden und Stabilität in der Region nachdrücklich unterstützte.

Es signalisiert auch die chinesische Unterstützung für eine iranische Reaktion auf Israel. Vor allem, wenn man bedenkt, dass die Ermordung Haniyehs in Peking als unverzeihlicher Schlag gegen die beträchtlichen diplomatischen Bemühungen des Landes gewertet wurde, nur wenige Tage nachdem der Hamas-Chef zusammen mit anderen palästinensischen politischen Vertretern die Erklärung von Peking unterzeichnet hatte.

Am Dienstag traf der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), Mahmoud Abbas, mit seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin in dessen Nowo-Ogarjowo-Residenz in Moskau zusammen. Was Putin zu Abbas sagte, ist ein Juwel der Untertreibung:

„Es ist allgemein bekannt, dass Russland heute leider seine Interessen und sein Volk mit Waffen in der Hand verteidigen muss, aber was im Nahen Osten [Westasien] geschieht, was in Palästina geschieht, bleibt sicherlich nicht unbemerkt.“

Doch es gibt ein ernstes Problem. Der von den USA und Israel unterstützte Abbas ist wie eine Art zerbrochenes Schilfrohr, das in Palästina kaum noch Glaubwürdigkeit genießt. Jüngste Umfragen zeigen, dass 94 Prozent der Bewohner des Westjordanlandes und 83 Prozent der Bewohner des Gazastreifens seinen Rücktritt fordern. Unterdessen machen weniger als 8 Prozent der Palästinenser die Hamas für ihre derzeitige, schreckliche Lage verantwortlich. Überwältigendes Vertrauen wird in den neuen Hamas-Führer Yahya Sinwar gesetzt.

Moskau befindet sich in einer komplizierten Lage: Es versucht, einen neuen politischen Prozess in Palästina mit seinen staatsmännischen Instrumenten voranzutreiben, und zwar auf viel eindringlichere Weise als die Chinesen. Doch Abbas wehrt sich dagegen.

Es gibt jedoch einige vielversprechende Ansätze. In Moskau sagte Abbas, man habe über BRICS gesprochen: Wir haben uns mündlich darauf geeinigt, dass Palästina im Rahmen des „Outreach“-Formats eingeladen wird“, und äußerte die Hoffnung, dass:

„Es könnte ein besonderes Format eines Treffens organisiert werden, das ausschließlich Palästina gewidmet ist, so dass alle Länder ihre Meinung zu den aktuellen Entwicklungen äußern können ... Es wird alles so relevant wie möglich sein, wenn man bedenkt, dass die Länder dieser Vereinigung [BRICS] alle mit Palästina befreundet sind.“

Das ist an sich schon ein bedeutender diplomatischer Sieg Russlands. Die Tatsache, dass Palästina in den Kreis der BRICS-Staaten aufgenommen wird, um ernsthafte Gespräche zu führen, wird immense Auswirkungen auf alle muslimischen Staaten und die globale Mehrheit haben.

Wie man eine tödliche Antwort kalibriert

Was das Gesamtbild   – die Antwort der Achse des Widerstands auf Israel   – betrifft, so ist Russland ebenfalls stark involviert. Kürzlich landete eine Reihe russischer Flugzeuge im Iran, die Berichten zufolge offensive und defensive militärische Ausrüstung an Bord hatten, darunter das bahnbrechende Murmansk-BN-System, das in der Lage ist, alle Arten von Funksignalen, GPS, Kommunikation, Satelliten und elektronische Systeme in einer Entfernung von bis zu 5.000 Kilometern zu blockieren und zu stören.

Dies ist der ultimative Albtraum für Israel und seine NATO-Helfer. Wenn der Iran das elektronische Kriegsführungssystem Murmansk-BN einsetzt, kann es das gesamte israelische Stromnetz, das nur 2.000 Kilometer entfernt ist, buchstäblich lahm legen, indem es Militärbasen und auch das Stromnetz angreift.

Wenn der Iran mit seinem Gegenschlag wirklich über die Stränge schlagen und dem Besatzungsstaat eine epische, unvergessliche Lektion erteilen will, könnte dies durch eine Kombination aus dem Murmansk-BN und neuen iranischen Hyperschallraketen geschehen.

Und vielleicht ein paar zusätzliche russische Hyperschall-Überraschungen. Schließlich reiste der Sekretär des Nationalen Sicherheitsrates, Sergej Schoigu, vor kurzem nach Teheran, um sich mit dem iranischen Generalstabschef Generalmajor Bagheri zu treffen, um die Feinheiten ihrer umfassenden strategischen Partnerschaft, auch im militärischen Bereich, abzustimmen.

Generalmajor Bagheri ließ sogar die BRICS-Katze aus dem Sack, als er sagte: „Wir werden die dreiseitige Zusammenarbeit von Iran, Russland und China begrüßen.“ So schließen sich die Zivilisationsstaaten in der Praxis zusammen, um das in die westliche „demokratische“ Plutokratie eingebaute „Forever War“-Ethos zu bekämpfen.

So sehr Russland und China Palästina und den Iran auf verschiedenen Ebenen unterstützen, ist es unvermeidlich, dass sich der Fokus der Forever Wars nun gegen sie alle richtet. Die Eskalation greift um sich   – in der Ukraine, in Israel, in Syrien, im Irak und im Jemen sowie in den Farbrevolutionen von Bangladesch (erfolgreich) bis Südostasien (gescheitert).

Das bringt uns zu dem zentralen Drama in Teheran: Wie kann man eine Reaktion sorgfältig kalibrieren, die Israel bedauern lässt, aber nicht zu blutenden Wunden vom Iran zu Russland und China führt.

Der übergreifende Zusammenprall zwischen Eurasien und NATOstan ist unvermeidlich. Putin selbst hat dies mit deutlichen Worten zum Ausdruck gebracht, als er sagte: „Jegliche Friedensgespräche mit der Ukraine sind unmöglich, solange sie Angriffe auf die Zivilbevölkerung durchführt und Atomkraftwerke bedroht.“

Das Gleiche gilt für Israel in Gaza. „Friedensgespräche“   – oder Waffenstillstandsverhandlungen   – sind unmöglich, solange Gaza und souveräne Staaten wie Syrien, Irak und Jemen nach Belieben beschossen werden.

Es gibt nur einen Weg, damit umzugehen: militärisch, mit intelligenter Gewalt.

Der Iran könnte in Absprache mit seinen strategischen Partnern Russland und China versuchen, einen dritten Weg zu finden. Das Projekt Israel legt seine eigene Wirtschaft praktisch lahm, um den Besatzungsstaat vor einer tödlichen Reaktion des Iran und der Achse des Widerstands zu schützen.

Teheran könnte also Sun Tzu bis zum Äußersten treiben   – das Abwarten, die psychologischen Operationen, die unerträgliche strategische Zweideutigkeit   – und die israelischen Siedler dazu zwingen, in ihren unterirdischen Bunkern zu schmoren, bis die gesamte, übergreifende, koordinierte Strategie steht, um einen tödlichen Schlag zu führen.

 Pepe Escobar For theCradle.co

Pepe Escobar

Quelle: https://thecradle.co/articles/how-a-brics-trio-is-staring-down-israel
Mit freundlicher Genehmigung von thecradle.co
Die Übersetzung besorgte Andreas Mylaeus


 

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israel: die die religiösen fanatiker in aktion - sehr gute analyse
wie die religiösen fanatiker versuchen, einen weltkrieg zu inszenieren und die USA dabei hineinzuziehen...
Alastair Crooke: Revisionistische Zionisten fordern die USA auf, ihrer Nakba-Agenda den Stecker zu ziehen Amerika sitzt in der Falle. Die Machthaber sind unglücklich, aber ohnmächtig. 19. August 2024 Von Alastair Crooke - übernommen von strategic-culture.su

(Red.) So erfahren wir endlich, von wem und warum dieser unsägliche Irak-Krieg geplant und durchgeführt wurde! Und man sieht auch, aus welchem Urgrund die Neo-Cons gekrochen sind! Dem einen oder anderen hatte das ja schon gedämmert - aber hier haben wir es einmal schwarz auf weiss.(am)

Die Israelis waren in den letzten Jahren tief gespalten und unfähig, sich auf eine Regierung zu einigen. Nach fünf Parlamentswahlen beschlossen sie, das Team Lapid/Gantz zu entlassen und eine neue Koalition aus Netanjahu und kleinen jüdischen Parteien von Vormachtsideologen an die Macht zu bringen.

Kurz nach der Bildung der neuen Regierung kam es jedoch zu einem heftigen Ausbruch von „Kaufreue“***, wobei ein beträchtlicher Teil der Israelis anscheinend bereit war, fast alles in Betracht zu ziehen, um ihre Regierung zu stürzen.

***Unter Kaufreue (englischbuyer's remorse, postdecisional regret) wird in der Verkaufspsychologie ein Kaufverhalten verstanden, bei dem ein Kunde nach dem Kauf Informationen erhält, welche zu seiner Unsicherheit über die Richtigkeit seiner Kaufentscheidung beitragen. 

In ganz Israel kam es regelmäßig zu Demonstrationen, um zu verhindern, dass das Land   – in den Worten eines ehemaligen Mossad-Direktors   – zu einem rassistischen und gewalttätigen Staat wird, der nicht überleben kann“.

Aber wahrscheinlich ist es bereits zu spät.

Die meisten Menschen außerhalb Israels neigen dazu, die verschiedenen und oft gegensätzlichen Ansichten in Israel in einen Topf zu werfen, und zwar ausschließlich aus der reduzierenden Perspektive, dass es sich bei all diesen verschiedenen Akteuren um Juden und Zionisten leicht unterschiedlicher Couleur handelt.

Sie könnten sich nicht mehr irren. Es gibt eine existenzielle Kluft; es gibt verschiedene Formen des Zionismus: Die Spaltung geht bis zu der Frage, was es bedeutet, Jude zu sein. Benjamin Netanjahu ist ein „revisionistischer Zionist“, d.h. ein Anhänger von Wladimir Jabotinsky (für den sein Vater Benzion Netanjahu als Privatsekretär gearbeitet hatte): Der „revisionistische Zionismus“ ist das genaue Gegenteil des kulturellen Zionismus des Jüdischen Weltkongresses. Als junger Mann hat Netanjahu erklärt, Palästina sei „ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“. Folglich war er für die Ausweisung aller arabischen „Blow-Ins“ (Einsprengsel   – wie er sie nannte). Außerdem vertrat er die Idee, dass sich der Staat Israel „vom Nil bis zum Euphrat“ erstreckt.

Während seiner 16-jährigen Amtszeit als Premierminister wurde Netanjahu jedoch als gemäßigter (pragmatischer), aber immer auch hinterhältig wahrgenommen. Im Nachhinein betrachtet, hatte er sich vielleicht einfach nur der Zeit angepasst. Oder aber er praktizierte die Strauss'sche „Doppel-Wahrheit“   – die Praxis, die Leo Strauss seinen Anhängern als einziges Mittel lehrte, um das „wahre“ Judentum innerhalb des umfassenden „liberal-europäischen“ (weitgehend aschkenasischen) Ethos zu bewahren. Strauss' „Esoterik“ (in Anlehnung an Maimonides, den frühen jüdischen Mystiker) bestand darin, sich äußerlich zu einer „weltlichen Sache“ zu bekennen, während er innerlich eine völlig konträre esoterische Lesart der Welt bewahrte. Nur um das klarzustellen: Zu den revisionistischen Zionisten (zu denen Netanjahu gehört) gehören Menachem Begin und Ariel Sharon, die mit der Nakba (der Massenvertreibung der Palästinenser) 1948 gezeigt haben, wozu sie fähig sind. Netanjahu gehört zu dieser „Linie“   – und damit zu einer wichtigen dominanten Fraktion in Washington.

Der 'Krieg' mit Washington, nach dem 7. Oktober

Zunächst hat Washington mit einer unreflektierten und sofortigen Unterstützung Israels reagiert, indem es sein Veto gegen verschiedene Waffenstillstandsresolutionen des UN-Sicherheitsrates eingelegt und Israels militärischen Bedarf für die Zerstörung der palästinensischen Enklave in Gaza vollständig gedeckt hat. In den Augen des US-Establishments war es undenkbar, etwas anderes zu tun als Israel zu unterstützen. Israels Qualitativer militärischer Vorsprung (Qualitative Military Edge   – QME) ist als eine der grundlegenden Strukturen verankert, die den brüchigen Ast stützen, auf dem die Hegemonie der USA ruht.

Gewöhnliche Amerikaner (und einige in der Regierung) sahen jedoch die Schrecken des Völkermords „live“ auf ihren Handys. Die Demokratische Partei begann, stark zu zerbrechen. Die „Machthaber“ in den Hinterzimmern begannen, Druck auf das israelische Kriegskabinett auszuüben, um über die Freilassung der Geiseln zu verhandeln und einen Waffenstillstand in Gaza zu schließen   – in der Hoffnung auf eine Rückkehr zum Status quo ante.

Aber die Regierung Netanjahu sagte   – auf verschiedene tautologische Arten   – „nein“ und spielte schamlos mit dem Trauma des 7. Oktobers ihrer Bürger, um die Notwendigkeit der Vernichtung der Hamas zu beteuern. Washington begriff erst mit einiger Verspätung, dass der 7. Oktober für die Anhänger Jabotinskys der Vorwand war, das zu tun, was sie schon immer wollten: Die Vertreibung der Palästinenser aus Palästina.

Die israelische Botschaft wurde von den herrschenden Schichten in Washington perfekt „empfangen und verstanden“: Die revisionistischen Zionisten (die etwa 2 Millionen Israelis vertreten) wollten den Angelsachsen auf zynische Weise ihren Willen aufzwingen; sie drohten damit, einen Krieg mit der Welt zu entfachen, in dem die USA „verbrennen“ würden: Sie würden nicht zögern, die USA in einen umfassenden regionalen Krieg zu stürzen, sollte das Weiße Haus versuchen, das Neo-Nakba-Projekt zu untergraben.

Trotz der absoluten Unterstützung, die Israel in Washington genießt, scheint die herrschende Klasse beschlossen zu haben, dass das Ultimatum des „revisionistischen Strategems“ nicht toleriert werden kann. Eine entscheidende US-Wahl steht an. Die soft power der USA in der Welt brach zusammen. Jeder, der die Ereignisse rund um den Globus beobachtete, verstand, dass die Tötung von mehr als 40.000 unschuldigen Menschen nichts mit der Beseitigung der Hamas zu tun hatte.

Den Hintergrund verstehen

Um die Natur dieses okkulten Krieges zwischen den revisionistischen Zionisten und Washington zu verstehen, ist es notwendig, Leo Strauss, einen deutschen Juden, der Deutschland 1932 unter der Schirmherrschaft eines Stipendiums der Rockefeller Foundation verlassen hatte und schließlich 1938 in den USA ankam, erneut zu befragen.

Es geht hier darum, dass die Ideen, die in diesem ideologischen Kampf eine Rolle spielen, nicht nur Israelis und Palästinenser betreffen. Es geht um Kontrolle und Macht. Der Kern der Agenda der gegenwärtigen israelischen Regierung   – insbesondere ihre umstrittene Rechtsreform   – sind reine Leo-Strauss-Derivate. Die amerikanischen Machthaber waren besorgt, dass Netanjahus Agenda zu einer Übung in reiner Strauss'scher Macht wird   – auf Kosten der säkularen amerikanischen Macht.

Das heißt, dass die revisionistischen Vorstellungen von der einflussreichen Gruppe von Amerikanern geteilt werden, die sich um diesen Philosophieprofessor   – Leo Strauss   – an der Universität von Chicago gebildet hatte. In vielen Berichten wird berichtet, dass er eine kleine innere Gruppe gläubiger jüdischer Studenten gebildet hatte, denen er privaten mündlichen Unterricht erteilte: Der esoterische innere Sinn der Politik konzentrierte sich dem Hörensagen nach auf die Durchsetzung der politischen Hegemonie als Mittel zum Schutz vor einer neuen Shoah (Holocaust).

Der Kern von Strauss' Denken   – das Thema, auf das er immer wieder zurückkam   – ist das, was er die merkwürdige Polarität zwischen Jerusalem und Athen nannte. Was bedeuteten diese beiden Namen? Oberflächlich betrachtet scheinen Jerusalem und Athen zwei grundlegend unterschiedliche, sogar antagonistische Codes oder Lebensweisen zu repräsentieren.

Die Bibel, so Strauss, stellt sich nicht als eine Philosophie oder Wissenschaft dar, sondern als ein Gesetzeskodex, ein unveränderliches göttliches Gesetz, das uns vorschreibt, wie wir leben sollen. Tatsächlich sind die ersten fünf Bücher der Bibel in der jüdischen Tradition als Tora bekannt, und „Tora“ lässt sich vielleicht am ehesten wörtlich mit „Gesetz“ übersetzen. Die Haltung, die die Bibel lehrt, ist nicht die einer Selbstreflexion oder kritischen Prüfung   – sondern die des absoluten Gehorsams, des Glaubens und des Vertrauens in die Offenbarung. Wenn der paradigmatische Athener Sokrates ist, so ist die paradigmatische biblische Figur Abraham und die Akedah (die Bindung Isaaks), der bereit ist, seinen Sohn für einen unverständlichen göttlichen Befehl zu opfern.

„Ja“, die westliche liberale Demokratie brachte bürgerliche Gleichheit, Toleranz und das Ende der schlimmsten Formen der Verfolgung. Doch gleichzeitig verlangte der Liberalismus vom Judentum   – wie von allen Religionen   – die Privatisierung des Glaubens, die Umwandlung des jüdischen Rechts von einer kommunalen Autorität in den Bereich des individuellen Gewissens. Das Ergebnis war, wie Strauss analysierte, ein gemischter Segen. Das liberale Prinzip der Trennung von Staat und Gesellschaft, von öffentlichem Leben und privatem Glauben könne nur zu einer „Protestantisierung“ des Judentums führen, meinte er.

Um es klar zu sagen: Diese beiden antagonistischen Seinsweisen drücken grundlegend unterschiedliche moralische und politische Standpunkte aus. Dies ist der Kern dessen, was die beiden „Lager“, die heute in Israel leben, trennt: Demokratisches „kulturelles Judentum“ versus das Judentum des Glaubens und des Gehorsams gegenüber der göttlichen Offenbarung.

Das Aufstellen der Falle für die USA

Die U.S. Straussianer begannen vor einem halben Jahrhundert, 1972, eine politische Gruppe zu bilden. Sie gehörten alle dem Stab des demokratischen Senators Henry „Scoop“ Jackson an, darunter Elliott Abrams, Richard Perle und David Wurmser. Im Jahr 1996 schrieb dieses Straussianer-Trio eine Studie für den neuen israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu. Dieser Bericht (die Clean-Break-Strategie) befürwortete die Beseitigung von Jassir Arafat, die Annexion der palästinensischen Gebiete, einen Krieg gegen den Irak und die Umsiedlung der Palästinenser dorthin. Netanjahu gehörte zu diesem Kreis. Die Strategie wurde nicht nur von den politischen Theorien von Leo Strauss inspiriert, sondern auch von denen seines Freundes Ze'ev Jabotinsky, dem Begründer des revisionistischen Zionismus, für den Netanjahus Vater als Privatsekretär tätig war.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Die amerikanischen Straussianer   – heute meist als „Neo-Cons“ bezeichnet   – sind nicht grundsätzlich gegen die Nakba-Agenda der Netanjahu-Regierung. Es war nicht das Leiden des Gazastreifens, das sie bewegte, sondern die Drohungen der revisionistischen Zionisten, einen Angriff auf den Iran und den Libanon zu starten. Denn sollte dieser Krieg geführt werden, wäre die israelische Armee mit Sicherheit nicht in der Lage, die Hisbollah allein zu besiegen. Und einen Krieg gegen den Iran zu führen, wäre für Israel der reinste Wahnsinn. Um Israel zu retten, wären die USA also zweifellos gezwungen, einzugreifen. Das militärische Kräfteverhältnis hat sich seit dem israelisch-libanesischen Krieg 2006 erheblich zugunsten der Hisbollah und des Irans verschoben, und ein Krieg wäre jetzt ein heikles und riskantes Unterfangen. Dennoch war dies für die unausgesprochene „esoterische“ (innere) Agenda der israelischen Regierung von entscheidender Bedeutung.

Washington versucht zurückzuschlagen, sieht sich aber schachmatt gesetzt

Die einzige Alternative für die USA wäre, einen Militärputsch in Tel Aviv zu unterstützen. Einige hochrangige Offiziere und israelische Unteroffiziere haben sich bereits zusammengetan, um dies vorzuschlagen. Im März 2024 wurde General Benny Gantz (gegen den Willen des Premierministers) nach Washington eingeladen. Er hat die Einladung den Premierminister zu stürzen jedoch nicht akzeptiert. Er wollte sich vergewissern, dass er Israel noch retten kann und dass sich seine Verbündeten in den USA nicht gegen den israelischen Militärkader wenden würden.

Das mag seltsam erscheinen. Aber in Wirklichkeit fühlen sich die IDF unterminiert, ja sogar verraten. Die Vereinbarung, die zu Beginn der Regierung zwischen Netanjahu und Itamar Ben-Gvir (von Otzma Yehudit) getroffen wurde, war der Ausweg aus dieser Angst. Das Regierungsvereinbarung sah vor, dass Ben-Gvir eine autonome Streitkraft im Westjordanland leiten sollte. Ihm wurde nicht nur die Verantwortung für die Nationalpolizei, sondern auch für die Grenzpolizei übertragen, die bis dahin dem Verteidigungsministerium unterstellt war. Das Abkommen sah auch die Schaffung einer groß angelegten Nationalgarde und eine verstärkte Präsenz von Reservetruppen bei der Grenzpolizei vor.

Ben-Gvir ist ein Kahanist, d.h. ein Schüler des Rabbiners Meir Kahane, der die Vertreibung der palästinensischen arabischen Bürger aus Israel und den besetzten Gebieten und die Errichtung eines Gottesstaates fordert, und er macht keinen Hehl daraus, dass er die Grenzpolizei zur Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung, seien es Muslime oder Christen, einsetzen will.

Die offiziellen Streitkräfte Ben Gvirs sind, wie Benny Gantz bemerkte, eine „Privatarmee“. Aber das ist nur die halbe Wahrheit, denn er hat auch die Gefolgschaft von Hunderttausenden von Siedlern im Westjordanland, die von dem radikalen Rabbiner Dov Lior und seiner Clique von radikalen Jabotinsky-Rabbinern kontrolliert werden. Die reguläre Armee fürchtet diese Milizen, wie wir auf dem Militärstützpunkt Sde Teiman gesehen haben, als die Milizen von Ben Gvir den Stützpunkt gestürmt haben, um Soldaten zu schützen, die der Vergewaltigung palästinensischer Gefangener beschuldigt wurden.

Die Angst der israelischen Militärs vor dieser „Jabotinsky-Armee“ zeigt sich in der Warnung des ehemaligen Premierministers Ehud Barak, dass: „Unter dem Deckmantel des Krieges findet jetzt in Israel ein Regierungs- und Verfassungsputsch statt, ohne dass ein Schuss fällt. Wenn dieser Putsch nicht gestoppt wird, wird er Israel innerhalb weniger Wochen in eine De-facto-Diktatur verwandeln. Netanjahu und seine Regierung ermorden die Demokratie ... Die einzige Möglichkeit, eine Diktatur zu einem so späten Zeitpunkt zu verhindern, ist, das Land durch groß angelegten, gewaltlosen zivilen Ungehorsam rund um die Uhr lahmzulegen, bis diese Regierung gestürzt ist ... Israel war noch nie mit einer so ernsten und unmittelbaren inneren Bedrohung seiner Existenz und seiner Zukunft als freie Gesellschaft konfrontiert.“

Die IDF-Elite will einen Waffenstillstand/ein Geiselabkommen, in erster Linie um „Ben-Gvir zu stoppen“   – und nicht, weil es Israels Palästinenserproblem löst. Das tut es nicht.

Aber Netanjahus Ultimatum lautet: Wenn die Ermordung von Haniyeh nicht ausreicht, um die USA in den großen Krieg zu stürzen, der ihm (Netanjahu) den großen Sieg bescheren wird, kann er jederzeit eine größere Provokation auslösen: Ben Gvir kontrolliert auch die Sicherheit auf dem Tempelberg   – die Eskalationsleiter Tempelberg/Al-Aqsa kann jederzeit erklommen werden (durch Androhung der Zerstörung der Al-Aqsa-Moschee). Amerika sitzt in der Falle. Die Machthaber sind unglücklich, aber ohnmächtig.

Quelle: https://strategic-culture.su/news/2024/08/19/revisionist-zionists-dare-us-to-pull-the-plug-on-their-nakba-agenda/
Die Übersetzung besorgte Andreas Mylaeus



Spielen mit Geld, 16. Juli 2018 (Symbolbild)

Von Rüdiger Rauls: Der Kapitalismus hustet – Was der Zusammenbruch der Tokioter Börse offenbart  17 Aug. 2024 15:18 Uhr   Der Zusammenbruch der Tokioter Börse hat erneut gezeigt, wie ungesund Kapitalismus sein kann. Vor allem, wenn er sich regelmäßig durch kreative Geldanlage-Strategien am Leben erhalten muss. Braucht es eine neue Form desselben oder gar ein gänzlich neues Konzept für gemeinschaftliches Wirtschaften? In Japan bricht die Börse zwischenzeitlich um zwölf Prozent ein. Weltweit verzeichnen die Finanzplätze starke Abschläge. Hat der Kapitalismus nur Husten oder ist es Schlimmeres? Die Schärfe der Kursstürze deutet auf ein hohes Maß an Verunsicherung hin.

Wenig Klares

Wenn auch die Börsen seit Jahren nur eine Richtung zu kennen scheinen, so sind doch Einbrüche wie jener in der ersten Augustwoche in der Geschichte des Kapitalismus keine Seltenheit. Dennoch schütten solche Einbrüche wie jener an der Tokioter Börse von zwischenzeitlich zwölf Prozent Essig in den Wein der Anleger. Ausschläge in solcher Heftigkeit, dem fünftgrößten in der Geschichte der Tokioter Börse, hatten die Anleger nicht mehr auf dem Schirm. Dass Kurse auch talwärts laufen können, hatten viele aus ihrem Bewusstsein gestrichen. Nun wird gerätselt, woran es gelegen hat und ob die Kurse weiter fallen. Seit dem scharfen Kursrückgang infolge der Corona-Panik war man es gewohnt, dass nach Kursdellen auch schnell wieder eine Erholung kommt, oftmals sogar mit neuen Rekorden bei vielen Aktienindizes. Die vielen und ständig zunehmenden Krisen in der Welt schienen in der Welt der Börsensäle gar nicht mehr zu existieren. Dennoch zeigt dieser Kurssturz der ersten Augustwoche, dass die Finanzwelt sehr nervös ist und auf dem Sprung, Gewinne schnell mitzunehmen, wenn es brenzlig wird. Denn Warnsignale gibt es viele. Die Hausse läuft bereits seit Jahren trotz der sich verschlechternden Wirtschaftsdaten. Die Inflation ist hoch und das Wirtschaftswachstum niedrig. Die hohen Zinsen, die die Inflation bremsen sollten, würgen Investitionen und Konsum ab. Trotzdem waren die unlängst veröffentlichen Zahlen der US-Unternehmen besser als erwartet und 80 Prozent der Unternehmen konnten die Erwartungen der Analysten sogar überbieten. Dass die Kurse trotzdem in den Keller gingen, wird Rezessionsängsten zugeschrieben, die durch die schwachen Daten vom US-Arbeitsmarkt ausgelöst worden sein sollen. Doch was als scheinbar rationale Erklärung daher kommt, galt vor nicht allzu langer Zeit noch als Grund für Kursraketen. Denn damals sah man schlechte Konjunkturdaten noch als Argument für die Hoffnung, dass nun die Notenbank die Zinsen senken muss. Das hatte die Kurse beflügelt. So sehr sich die sogenannten Experten auch abmühen mit wissenschaftlich klingenden Erklärungen, es ist viel Spekulation und wenig Handfestes in den Überlegungen enthalten.

Viel Geld

Auf der anderen Seite ist ungeheuer viel Geld im Markt, und Geld ist der Sauerstoff der Börsen. Durch die Verkäufe der letzten Tage haben sich die Barreserven noch zusätzlich erhöht, und für dieses Geld müssen wieder Investitionsgelegenheiten gefunden werden. Denn so schlimm Kursverluste auch sein mögen, mindestens genauso unerträglich ist im Kapitalismus Anlagenotstand, also jene Situation, in der Kapital brach liegt und es zu wenig Möglichkeiten gibt, dieses Geld gewinnbringend anzulegen. Das ist dann die Stunde der Kreativen und Innovationen an den Finanzmärkten. Sie schaffen neue Instrumente und Produkte, mit denen das Kapital der Anleger wieder eingefangen und zu neuen Renditezielen getrieben werden kann. Vor der Finanzkrise von 2008 waren das die besicherten Zertifikate (ABS). Mit ihnen konnten die Kredite, die die Banken ausgegeben hatten, einer neuen Verwertung zugeführt werden. Diese Kredite wurden zu Wertpapieren gebündelt und an die Börsen gebracht – mit dem Segen der Ratingagenturen und einer stattlichen Verzinsung. Nicht nur große Investoren legten ihr Geld dort an, auch so mancher Stadtkämmerer hoffte damit die klammen Kassen seiner Kommune aufzupeppen. Sogar den Inhabern von Sparbüchern wurden diese Zertifikate von ihren Hausbanken als gute Anlage für ihr kleines Geld angedreht. Aber wenn Kleinanleger zu spekulieren beginnen, ist die Party vorbei. Denn wer soll ihnen noch diese Papiere abkaufen? Sie sind die letzten in der Reihe. Dahinter ist niemand mehr, der noch Geld hat und bis jetzt nicht gekauft hat. Das Ende der Zertifikate-Hausse ist bekannt. Die Finanzmärkte standen vor dem Zusammenbruch und mussten von den Staaten und durch die Geldschwemme der Notenbanken gerettet werden. Dadurch aber kam noch mehr Geld in den Markt und der Druck zur Kapitalverwertung stieg noch weiter. Der Kapitalismus macht keine Pause, und die schöpferische Kraft der Menschen kennt keine Grenzen. Das gilt auch für die Möglichkeiten der Geldvermehrung. Weitgehend unter der Aufmerksamkeit der öffentlichen Wahrnehmung waren neue ergiebige Instrumente entstanden, die auf den Zinsunterschieden zwischen Staaten und Währungen aufbauten: die sogenannten Carry Trades. Sie sind nicht unbedingt neu, neu aber ist das Ausmaß der Summen, die in sie geflossen sind. Allein die auf japanische Yen lautenden Kreditgeschäfte im Rahmen dieser Spekulationsinstrumente werden auf "fast vier Billionen US-Dollar geschätzt", so die Frankfurter Allgemeine Zeitung, vielleicht aber auch mehr.

Neues Spiel

Die Carry Trades gehen auf das Platzen der japanischen Immobilien-Blase zu Beginn der 1990er-Jahre zurück. Um die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen, senkte die Bank of Japan (BoJ) die Zinsen, damit billiges Geld für Investitionen zur Verfügung stand. Es ist weitverbreiteter Irrtum, dass die Notenbank Zinssenkungen beschließen kann. Sie kann sie anbieten oder vorschlagen, entscheidend aber ist, ob der Markt diese Zinssenkungen aufnimmt. Staatsanleihen, die bereits am Markt sind, verfügen über einen festen Zinssatz, der während der Laufzeit nicht geändert werden kann. Neue Zinssätze können also nur bei der Neuausgabe von Anleihen ausgegeben werden. Wer aber kauft eine Anleihe mit einem Coupon von einem Prozent, wenn vergleichbare Staaten das Doppelte oder mehr bieten wie die USA? Die einzige Möglichkeit, dennoch auf den Zins Einfluss zu nehmen, ist der Kurs der Anleihe. Wenn also die BoJ Zinssenkungen ankündigte, dann ging das nur auf dem Weg, dass sie selbst am Markt befindliche Anleihen aufkaufte und damit deren Kurs in die Höhe trieb. Wenn der Kurs bei gleichbleibendem Zinssatz steigt, dann führt das im Umkehrschluss zu einer niedrigeren effektiven Verzinsung der Anleihe. Die BoJ kaufte also die Anleihen des japanischen Staates auf und wurde damit größter Gläubiger des eigenen Staates. Aber die Zinsen sanken, was die Absicht dieses Vorgehens war. Die Folgen dieser Operation waren einerseits niedrige Zinsen und andererseits ein Verfall der japanischen Währung, des Yen. Der niedrige Yen befeuerte den Export und den Gewinn der japanischen Unternehmen. Der schwache Yen ermöglichte aber auch Investoren, in Japan niedrig verzinste Kredite aufzunehmen und dieses Geld in den USA bei wesentlich höheren Zinssätzen zu investieren. Mit diesem als Carry Trades bezeichneten Verfahren ließen sich gewaltige Gewinne erwirtschaften. Man nutzte nicht nur den Zinsunterschied zwischen Japan und den USA, sondern auch den Währungsverfall vom Yen zum US-Dollar. Aber keine Volkswirtschaft kann auf Dauer solche künstlich geschaffenen Ungleichgewichte aushalten. Seit dreißig Jahren hat die japanische Notenbank die Anleihen des japanischen Staates aufgekauft und damit ein gewaltiges Defizit von über 200 Prozent in Bezug auf die wirtschaftliche Leistungskraft des Landes geschaffen. Japan ist das am höchsten verschuldete Land der Welt. Als die Zinsen weltweit stiegen, konnte das Land seine über Jahrzehnte gepflegte Null-Zins-Politik nicht weiter aufrechterhalten.

Neues Glück?

Die BoJ kündigte Zinserhöhungen an. Das hatte den Markt nicht weiter interessiert. Denn wie gesagt: Der Markt entscheidet, ob die Zinsen sinken oder fallen, nicht die Notenbanken. Diese können nur darüber befinden, ob sie Anleihen ihres Staates kaufen oder nicht, oder ob sie gar Anleihebestände verkaufen. Das Blatt für die japanischen Zinsen wendete sich mit der Ankündigung der BoJ, weniger Anleihen zu kaufen. Wenn die Notenbank weniger japanische Anleihen kauft, dann sinkt die Nachfrage danach. Anleger konnten also davon ausgehen, dass die Kurse sinken werden, wenn die Nachfrage infolge der sinkenden Notenbank-Käufe zurückgeht. Also verkauften viele, nahmen Kursgewinne mit. Die Notierungen sanken. Damit aber stieg der effektive Zins japanischer Anleihen. Das Geschäft der Carry Trades begann, nicht nur an Attraktivität zu verlieren, sondern auch zu Verlusten zu führen. Denn nicht nur die Zinssätze gerieten ins Wanken, auch die Währungsverhältnisse zwischen Dollar und Yen hatten sich rapide verändert. Hatten im Juni noch 162 Yen für einen US-Dollar gezahlt werden müssen, den schlechtesten Wert aller Zeiten, so verbesserte sich die japanische Währung innerhalb eines Monats um 10 Prozent auf 145 Yen pro US-Dollar. Das brachte das Geschäftsmodell der Carry Trades in Gefahr. Um schnell flüssig zu werden, verkauften Investoren japanische Aktien. Die Börse in Japan ging in die Knie. Wie viele Carry-Trade-Kontrakte bestehen, weiß niemand genau. Von daher ist auch das Risiko nicht abzuschätzen, das diese Instrumente für die Finanzmärkte bedeuten. Die Börsen haben sich nach dem ersten Schock wieder etwas erholt. Aber es ist nicht klar, ob das schon das Hauptbeben war oder nur ein Vorbeben und ähnliche oder gar heftigere folgen. Denn in den Tiefen von Märkten, die nicht so transparent sind wie die Börsen, stehen große Summen im Feuer. Hat der Kapitalismus nur gehustet, hat ihn eine Lungenentzündung oder gar die viel gefährlichere Schwindsucht erfasst? Das wird sich zeigen. Aber eines ist auch klar: Daran wird der Kapitalismus nicht zerbrechen. Viele seiner Gegner hoffen im Stillen, dass er an seinen Krisen zugrunde geht und dadurch einer neuen Ordnung Platz gemacht wird. Das ist ein Trugschluss. Eine neue Ordnung kommt nicht dadurch, dass die alte zusammenbricht. Eine neue Ordnung kommt nur, wenn eine neue geschaffen wird. Sie kommt, wenn die Menschen sich eine neue gesellschaftliche Grundlage für ihr Zusammenleben schaffen im Bewusstsein ihrer Interessen und Bedürfnisse. Solange das nicht geschieht, wird der Zusammenbruch des herrschenden kapitalistischen Systems nicht zu dessen Untergang führen. Börsenbeben und Finanzkrisen schaffen keine neue Gesellschaft, sie bringen höchstens eine neue Form des Kapitalismus hervor. Auch wenn das zusammenbricht, was heute als Kapitalismus dasteht, wird das, was danach kommt, auch wieder Kapitalismus sein – nur in einem anderen Gewand. Seine Abschaffung, seine Überwindung als Teil der Menschheitsgeschichte wird nur dann erfolgen, wenn die Menschen seiner überdrüssig sind und sich aufmachen, ihn durch eine neue gesellschaftliche Ordnung zu ersetzen. Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog Politische Analyse.

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Die gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt  – Peter Kropotkin Eine wichtige Widerlegung des so oft missbräuchlich verwendeten Begriffs des Sozialdarwinismus  Rezension von Matthias Bröckers 07. 02. 2013  18. April 2013  Seine Prophezeiung jedoch, dass Fortschritte im wissenschaftlichen Instrumentarium wie etwa der Mikroskopie noch viele weitere Belege für die natürliche „gegenseitige Hilfe” als Motor der Evolution bringen würden, hat sich ein Jahrhundert später mehr als bestätigt.

Geschätzte Leserin, geschätzter Leser, liebe Freunde, Peter Kropotkins «Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt» ist eine unserer wichtigsten Buchempfehlungen, weil darin die Sozialnatur des Menschen klar dargestellt und wissenschaftlich untermauert wird. Es kann uns gerade heute in unserer orientierungslosen und medial vernebelten Zeit Hoffnung und Zuversicht geben, dass es besser werden wird und der gesunde Menschenverstand nicht vollkommen ausgeschaltet werden kann. Auch der zunehmende Genossenschaftsgedanke und die erfreuliche Entwicklung einer multipolaren Welt geben zu berechtigter Hoffnung Anlass. Somit wird wiederum einmal klar, dass Krieg und Ausbeutung des Menschen durch den Menschen nicht unserer Natur entspricht, sondern andere Gründe hat. Alfred Adlers epochale Erkenntnisse über das Werden des Charakters des Menschen in den frühen Kindertagen und -Jahren in Beziehung zu seinen Eltern, resp. Beziehungspersonen, fussen nicht zuletzt auch auf Kropotkins Untersuchungen. Obwohl das Buch 1904 in England erschien und 1975 bei Karin Kramer Verlag herausgegeben wurde, ist der Bekanntheitsgrad bescheiden geblieben. Das Buch gehört in die Hände aller, die sich um Erziehung, Schule und Bildung bemühen. Das ist unser Wunsch. Herzlich Margot und Willy Wahl

Für das Buch “Gewinn für alle   – Genossenschaften als Wirtschaftsmodell der Zukunft”, das zur Leipziger Buchmesse im kommenden Monat erscheint, habe ich einige kurze Porträts wichtiger Vordenker des Genossenschaftsgedankens geschrieben. Nachdem Genossenschaften lange  nur noch  als frühsozialistische Utopie bzw.  aktuelles Beispiel für zwangskollektivierte kommunistische Mißwirtschaft galten, sind sie jetzt wieder ein Zukunftsmodell   – in den letzten drei  Jahren wurden in Deutschland mehr als 700 neue Genossenschaften gegründet.

Die egalitäre Grundregel “one (wo)man one vote”, nach der jedes Mitglied unabhängig von seiner Kapitaleinlage eine Stimme hat, schützt diese Unternehmensform nicht nur vor Heuschrecken, sondern hat zum Beispiel auch dafür gesorgt, dass Genossenschaftsbanken und Credit Unions (wie sie in den USA heißen) von der Bankenkrise kaum betroffen wurden. Weil das Interesse ihrer Mitglieder nicht auf maximale Profitsteigerung durch Casinowetten gerichtet ist, sondern auf  günstige Kredit,-und Bankdienstleistungen, mußten sich die Genossenschaftsbanken beim Zocken zwangsläufig zurückhalten.  Die vor mehr als 150 Jahren entwickelten Grundsätze des Genossenschaftswesens scheinen insofern  heute wieder zeitgemäß und marktkonform. Deshalb lohnt es auch, den Pionieren wieder Aufmerksamkeit zu schenken: dem kirchenfrommen Beamten Friedrich Wilhelm Raiffeisen, dem Liberalen Hermann Schulze-Delitzsch,  dem Sozialdemokraten Ferdinand Lassalle oder dem “Utopisten” Charles Fourier. Den Anfang machen wir jedoch mit einem meiner persönlichen Hausheiligen, dem Anarchisten Fürst Pjotr Kropotkin.


Peter Kropotkin

Nachdem Fürst Pjotr Kropotkin (1842  –1921) als Spross eines alten russischen Adelsgeschlechts die militärische Eliteschule als Jahrgangsbester abgeschlossen hatte, ließ er sich statt auf die Karriereleiter in St. Petersburg zu einem Kosakenregiment in das damals noch unkolonisierte Sibirien versetzen, wo er fünf Jahre lang geographische Studien und Naturbeobachtungen betrieb. Nach seinem Austritt aus dem Militär studierte er Geographie und wurde durch wissenschaftliche Veröffentlichungen bekannt.

Bei seiner ersten Auslandsreise lernte er 1872 die genossenschaftlich arbeitenden und egalitär organisierten Uhrmachervereinigungen im Schweizer Jura kennen. Fortan versuchte er, diese Ideen in Russland zu verbreiten, worauf er 1874 von der zaristischen Geheimpolizei verhaftet und in Festungshaft genommen wurde. Nach einem spektakulären Ausbruch konnte er 1876 nach London fliehen und bekam als renommierter Geograph eine Anstellung bei der Zeitschrift Nature.

Als Antwort auf die zu dieser Zeit einsetzende Überbetonung der Thesen Darwins vom „Kampf ums Dasein” und „Überleben des Stärkeren” verfasste Kropotkin eine Artikelserie, aus der 1902 sein berühmtestes Buch wurde: „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“.


Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt (1975 bei Karin Kramer Verlag erschienen)

Sein Blick ist dabei weniger auf Einzelwesen, sondern auf deren Kooperationen und Verbünde gerichtet, die er bei seinen Beobachtungen in Sibirien nicht nur in der unberührten Natur, sondern auch in Form von „unzivilisierten”, noch halb nomadisch lebenden Stämmen menschlicher Bewohner erlebte.

Kropotkin konnte bei seinen Studien, obwohl er „emsig darauf achtete, nicht jenen erbitterten Kampf um die Existenzmittel zwischen Tieren, die zur gleichen Art gehören, entdecken. Und es war dieser Kampf, der seitens der meisten Darwinisten   – keinesfalls aber ständig von Darwin selbst   – als das typische Kennzeichen des Kampfes um das Dasein und als Hauptfaktor der Entwicklung betrachtet wurde.“

Kropotkin leugnet nicht das natürliche „Fressen und Gefressenwerden”, er macht nur deutlich, dass dies nur die eine Seite der Evolutionsmedaille sei: Fitness beim „survival of the fittest” bedeutet nicht maximale Stärke und Rücksichtslosigkeit, sondern optimale Fähigkeit zur Kooperation und Anpassung an das Gesamtsystem. Krop0tkin kritisiert Rousseaus idealisiertes Menschenbild vom „edlen Wilden” ebenso wie Thomas Hobbes These, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf sei und nur mit Gewalt von oben gebändigt werden könne. Der natürliche Zustand des Menschen ist für ihn nicht einer des Kampfes, sondern einer der Verbundenheit, die nach Kropotkins Analyse im Lauf der Geschichte zerstört wurde: durch die Ausdehnung des Staates in die dörflichen Selbstverwaltungsstrukturen hinein und weil durch die Privatisierung des Gemeineigentums zum Nutzen weniger Herrschafts- und Machtsysteme entstanden.

Buch Gegenseitige Erste Auflage 1904 440px Gegenseitige Hilfe
Titelseite der ersten deutschen Ausgabe als Gegenseitige Hilfe in der Entwickelung von 1904

[Obwohl das Buch nach seiner Publikation nur auf mäßiges Interesse in wissenschaftlichen Kreisen stieß, wurde es später bei der Reinterpretation von Darwins Thesen wiederentdeckt und beeinflusste moderne Naturwissenschaftler wie Imanishi Kinji, Ashley Montagu und Adolf Portmann.[2]]

Die Theorie Kropotkins fand in der biologischen Wissenschaft seiner Zeit wenig Anklang, und die sozial- und gesellschaftstheoretischen Plädoyers des erklärten Anarchisten   – für Selbsthilfe und Selbstverwaltung und gegen staatliche Autorität und Einmischung   – stießen 1918 nach seiner Rückkehr nach Russland auch bei den bolschewistischen Revolutionären auf wenig Gegenliebe. Nach einem Treffen Kropotkins mit Lenin 1919 notierte ein (leider anonym gebliebener) Chronist die Verblüffung des Bolschewistenführers, „dass jemand angesichts des ungeheuren Aufschwungs und der mitreißenden Bewegung der Oktoberrevolution nur von Genossenschaften und immer wieder von Genossenschaften sprechen konnte”. Die späteren sowjetischen Zwangskollektivierungen entsprachen dann auch so ziemlich dem Gegenteil dessen, was Kropotkin als hierarchiefreie, genossenschaftliche Revolution vorgeschwebt hatte.

Seine Prophezeiung jedoch, dass Fortschritte im wissenschaftlichen Instrumentarium wie etwa der Mikroskopie noch viele weitere Belege für die natürliche „gegenseitige Hilfe” als Motor der Evolution bringen würden, hat sich ein Jahrhundert später mehr als bestätigt. Wie die US-amerikanische Mikrobiologin Lynn Margulis mit ihren anfangs radikal abgelehnten und mittlerweile allgemein akzeptierten Forschungen gezeigt hat, konnte „höheres Leben” nur durch die Kooperation und nicht durch die Konkurrenz von Bakterien und Mikroorganismen entstehen. Und mittlerweile vergeht kaum eine Woche, in der Biologen nicht eine neue Symbioseform entdecken   – was die neodarwinistischen/neoliberalen Theorien von Egoismus und Konkurrenz als Allheilmittel ernsthaft unterminiert. Insofern sollte es an der Zeit sein, auch die gesellschaftstheoretischen und genossenschaftlichen Analysen des wissenschaftlichen Visionärs Kropotkin wiederzuentdecken.

Quelle:

Siehe dazu auch:


 

Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt

Titelseite der ersten deutschen Ausgabe als Gegenseitige Hilfe in der Entwickelung von 1904.

Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt (englischer Originaltitel Mutual Aid: A Factor of Evolution) ist ein 1902 erschienenes Buch von Peter Kropotkin. Die Thesen herkömmlicher sozialdarwinistischer Auffassungen kritisierend, stellt er dem Kampf ums Dasein das Konzept der Gegenseitigen Hilfe gegenüber und sieht beide zusammen als Faktoren der Evolution.[1]

Obwohl das Buch nach seiner Publikation nur auf mäßiges Interesse in wissenschaftlichen Kreisen stieß, wurde es später bei der Reinterpretation von Darwins Thesen wiederentdeckt und beeinflusste moderne Naturwissenschaftler wie Imanishi Kinji, Ashley Montagu und Adolf Portmann.[2]

Inhaltsverzeichnis

Entstehung und Publikation

Kropotkin machte schon früh die Gegenseitige Hilfe zum Fundament seiner Theorie des kommunistischen Anarchismus, wie beispielsweise in seinem Buch Die Eroberung des Brotes. Seine Ideen zur Gegenseitigen Hilfe gehen dabei auf die Erfahrungen in Sibirien zurück, wo er zwischen 1862 und 1867 lange naturwissenschaftliche und geographische Forschungsreisen unternommen hatte. Später lernte Kropotkin die Idee der Gegenseitigen Hilfe durch einen Vortrag von Professor Karl F. Kessler kennen, dem damaligen Dekan der Universität St. Petersburg, dessen Vortrag er 1883 las. Professor Kessler hielt im Januar 1880 vor dem russischen Naturalistenkongress einen Vortrag über Das Gesetz der Gegenseitigen Hilfe, in dem er sagte: „Die gegenseitige Hilfe ist ebensogut ein Naturgesetz wie der gegenseitige Kampf, für die progressive Entwicklung der Species (Art) ist er aber von viel größerer Wichtigkeit als der Kampf.“[3] Diese Formel machte Kropotkin zur Basis seiner eigenen Arbeiten über die Gegenseitige Hilfe.

Nachdem Kropotkin 1886 nach London gezogen war, bekam er die Möglichkeit, seine Ideen auch einem wissenschaftlichen Publikum vorzustellen. In Großbritannien war er bereits bekannt für seine geografischen Arbeiten. So wurden Kropotkin die Mitgliedschaft in der britischen Royal Geographical Society und ein Lehrstuhl für Geografie an der University of Cambridge angeboten, die er wegen seiner politischen Arbeit und seinen Ansichten ablehnte. Nach seinem Nekrolog Darwins und in kurzen Worten in einem Artikel im britischen Monatsmagazin Nineteenth Century 1887, konnte Kropotkin seinen Standpunkt erstmals in einem Vortrag mit dem Titel Gerechtigkeit und Sittlichkeit vor der Ancoats Brotherhood in Manchester 1888 vor einem größeren Publikum vertreten. Darin beschrieb Kropotkin, wie – im Gegensatz zu den Ansichten Thomas H. Huxleys und Herbert Spencers – die Sittlichkeit bereits bei den Tieren und Urmenschen vorhanden sei. Aus dieser Sittlichkeit entwickelte sich dann im Laufe der Evolution das Gerechtigkeitsgefühl und schließlich das Gefühl des Altruismus.[4]

Die einzelnen Kapitel des späteren Buches erschienen zwischen 1890 und 1896 als Artikelserie im britischen Magazin Nineteenth Century.[Anm. 1] Die Artikel schrieb Kropotkin als Antwort auf den Sozialdarwinismus und im Besonderen auf den Artikel Thomas H. Huxleys vom Februar 1888 im gleichen Magazin mit dem Namen Struggle for Existence and its Bearing upon Man („Der Kampf ums Dasein und dessen Bedeutung für den Menschen“). Huxley verglich dabei die Evolution mit dem Kampf von Gladiatoren in der Arena, wo der Stärkere, Klügere und Schnellere überlebt, um sich am nächsten Tag wieder mit anderen Gegnern zu messen.[5] Auf die Bitte Kropotkins hin, erklärte sich James Knowles, der Gründer von Nineteenth Century, bereit dazu, eine Erwiderung Kropotkins ins Magazin aufzunehmen. Im Oktober 1902 erschien das Buch in London und wurde kurz nach der Publikation in verschiedene Sprachen übersetzt.

1904 wurde das Werk erstmals von Gustav Landauer ins Deutsche übersetzt. Es erschien im Theodor Thomas Verlag unter dem Titel Gegenseitige Hilfe in der Entwickelung. Weitere Neuauflagen erschienen im gleichen Verlag 1908, 1910 und 1920 unter dem Titel Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt. 1975 erschien das Werk wieder nach längerem Unterbruch im Karin Kramer Verlag und ein Jahr später im Ullstein Verlag. 1989, 1993 und 2005 folgten Neuauflagen im Trotzdem Verlag und 2011 im Alibri Verlag.[6]

Inhalt

Gegenseitige Hilfe in der Tierwelt

Beispielsweise bei Honigbienen zeigt Kropotkin: Die Strategie der Gegenseitigen Hilfe ist in der Tierwelt viel verbreiteter als der Kampf ums Dasein. (Ergänzende Abbildung)

Kropotkin präsentiert, von einfachen Tierarten aufsteigend, Informationen über arterhaltende Eigenschaften bei Insekten (Ameisen und Bienen), bei Vögeln (beispielsweise Seeadlern oder Turmfalken) und schließlich bei Säugetieren. Gemeinsame Jagdstrategien, die Aufzucht von Jungtieren, gegenseitiger Schutz in Ansammlungen, Herden und Rudeln, die Sorge um kranke Artgenossen und die rituelle Konfliktvermeidung innerhalb einer Art weisen auf die Gegenseitige Hilfe als eigentlich erfolgreiche Überlebensstrategie in der Natur und als Antrieb der Evolution hin. Den Darwinschen Begriff des Survival of the Fittest sieht er von den Sozialdarwinisten missinterpretiert: The fittest bedeutet für ihn nicht unbedingt der Stärkste oder der Rücksichtsloseste, sondern bezeichnet im Hinblick auf das Überleben des Gesamtsystems und der eigenen Art den Angepasstesten. Das systemgefährdende Überhandnehmen einzelner Tierarten wird eher durch Klimaschwankungen und Krankheiten und weniger durch den Kampf innerhalb einer Art verhindert, was Kropotkin mit Hinweis auf Büffel, Pferde und Raubtiere in Nordamerika belegt, die zur damaligen Zeit nicht unter Nahrungsknappheit leiden, sondern im Überfluss schwelgen.

Er widerspricht damit der Geltung des Bevölkerungsgesetzes von Malthus, von dem die Evolutionswissenschaftler seiner Zeit überzeugt waren: Während das Nahrungsangebot nur arithmetisch erschlossen werden könne, wachse die Population exponentiell, was zum innerartlichen Kampf ums Überleben führe. Dieses angebliche Naturgesetz (und seine Übertragung als Kulturgesetz auf kapitalistische Gesellschaften) sieht Kropotkin als Ausgeburt einer Rechtfertigungsideologie des Sozialdarwinismus. Er belegt, dass vielmehr eine Entwicklung zur Kooperation dominiert: Selbst Raubtiere können bei der gemeinsamen Jagd mehr erbeuten, als die Summe der Beute von jagenden Einzelgängern ergibt. Der Hauptaspekt ist das Naturgesetz der gegenseitigen Hilfe als Ergebnis von Geselligkeit und Individualismus und nicht der Nebenaspekt des Kampfes ums Dasein unter dem Druck kurzfristiger Notzeiten. Kropotkin bestreitet nicht das Fressen und Gefressenwerden in der Natur, sondern begreift auch dieses als ein Prinzip in der Natur, das wie andere Formen (z. B. die Symbiose) die Stabilität und Überlebensfähigkeit des Gesamtsystems sichert.

Gegenseitige Hilfe in der Menschenwelt

Clangesellschaften

Die Dayak; weder edle Wilde noch Hobbes’sche Wölfe: Sie sehen zwar die Kopfjagd als moralische Pflicht, werden aber von Ethnologen als äußerst sozial und liebenswert beschrieben und verachten Raub und Diebstahl. (Ergänzende Abbildung)

Naturvölker sind in Clans organisiert, das heißt zahlreichen Verbänden innerhalb eines Stammes, die auf Verwandtschaft beruhen. In diesen Clans herrscht Gemeineigentum und die Beute wird mit allen Mitgliedern geteilt; eine Form des Zusammenlebens, die Kropotkin einen primitiven Kommunismus nennt. Der Individualismus ist den meisten Naturvölkern unbekannt und unverständlich. Das Zusammenleben wird durch soziale Normen als ungeschriebene Gesetze geregelt, die nur selten gebrochen werden. Dabei kennen die Menschen in Naturvölkern keine Autorität, außer die Öffentliche Meinung, mit der sie das Fehlverhalten anderer Mitmenschen sanktionieren können. Kropotkin nennt beispielsweise beim Eskimovolk der Aleuten die Praxis der Jäger, beim Teilen der Beute einem gierigen Mitjäger ihre ganze Beute abzugeben, um ihn dadurch zu beschämen. Seine Ausführungen illustriert Kropotkin an Volksstämmen, die ihre traditionelle Lebensweise beibehielten und von vielen zeitgenössischen Ethnologen erforscht wurden, wie zum Beispiel die Yámana Patagoniens, die Khoi Khoi oder die Tungusen.

Er kritisiert die einseitigen spekulativen Menschenbilder einerseits Jean-Jacques Rousseaus mit dessen idealisiertem edlen Wilden und andererseits Thomas Hobbes’ Vorstellung, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf sei. Huxleys Interpretation der unzivilisierten Wilden, die Kannibalismus, Kindestötung und das Aussetzen von Greisen praktizieren, widerlegt Kropotkin und stellt sie als grobe Verallgemeinerungen dar. Bei einigen Völkern werde der Kannibalismus bei extremer Nahrungsknappheit praktiziert, wobei sich dennoch bei einigen Völkern Mexikos oder Fidschis der Kannibalismus zum religiösen Zeremoniell entwickelte. Die Kindestötung passiere nur selten und in allerhöchster Not und das freiwillige Zurückbleiben von Greisen in Notzeiten geschehe, weil diese nicht das Leben des ganzen Clans aufs Spiel setzen wollen. In der Regel werden bei Naturvölkern die älteren Menschen fürsorglich behandelt und außerordentlich geschätzt.

Dabei sind Familien spätere Entwicklungen in der menschlichen Evolutionsgeschichte und nicht, wie Thomas H. Huxley meint, vorbewusste Grundeinheiten, zu denen sich bewusstseinslose Wesen im Laufe der Evolution zusammenschließen und erst im Laufe der Zeit Clans, Stämme, Völker und Nationen bildeten. Kropotkin zufolge haben sich Familien durch veränderte Ehekonventionen erst allmählich aus den Clangesellschaften entwickelt.

Die Dorfmark der Barbaren

Die gegenseitige Hilfe bei den Kabylen zeigt sich beispielsweise in der Fürsorge für Arme und Hungrige, gleich welcher Herkunft. (Ergänzende Abbildung)

Das Wachstum der Clanorganisation sowie die Migration einzelner Familien eines Clans und die Aufnahme von Mitgliedern fremder Herkunft in den eigenen Clan führten allmählich zur Ablösung der Clanorganisation durch Dorfgemeinschaften. Kropotkin weist darauf hin, dass dieser Prozess in unterschiedlichen Teilen der Welt sehr ähnlich verlief. Die Dorfmark bezieht sich auf ein festgelegtes Gebiet und definierte so eine territoriale Gemeinschaft. Bei gleichzeitiger Ausdehnung der Gemeinschaft konnte sie auch Menschen anderer Stämme integrieren.

Kropotkin zeigt die Formen gegenseitiger Hilfe bei verschiedenen Gemeinschaften, wie den Osseten, den Burjaten, den Dorfgemeinschaften der Schotten und Südslawen. Ethnologen weisen bei allen Gemeinschaften auf die besondere Rolle des Privateigentums hin. Keine Gemeinschaft kennt das ausschließliche und zeitlich unbeschränkte Privateigentum. Dieses ist auf persönliche Dinge beschränkt oder wird als Anteil am gemeinsamen Boden verteilt und nach einer gewissen Zeitspanne neu zugeteilt. Die Gemeinschaft regelt ihre Angelegenheiten in Volksversammlungen (etwa dem germanischen Thing oder der djemmaa bei den Kabylen Nordafrikas). Einige Gemeinschaften schreiben dabei ihre Beschlüsse auf, jedoch ist das gesprochene Wort in allen Fällen bindend.

Die Formen gegenseitiger Hilfe sind auch bei verschiedenen und weit auseinanderliegenden Dorfgemeinschaften sehr ähnlich. Vielfach kommen Vermittler zum Einsatz, die versuchen, bei Konflikten zu schlichten. Als weiteres Beispiel nennt Kropotkin Abmachungen, die beinhalten, dass im Falle eines Krieges keine lebenswichtigen Dinge zerstört oder angegriffen werden, wie beispielsweise der Marktplatz, Brunnen oder Kanäle.

Die Zünfte der mittelalterlichen Städte

Zünfte sind für Kropotkin eine weitere Institution der Gegenseitigen Hilfe. Sie entstehen in allen Lebensbereichen, ob als Bettler-, Handwerker- oder Händlerzünfte, auch als Vereinbarungen auf Zeit. Prinzipiell sind alle Mitglieder einer Zunft gleichberechtigt, wobei Unterschiede nur aufgrund von Alter und Berufserfahrung gemacht werden. Die Zunft verwirklicht ein brüderliches Ideal und tritt beispielsweise als gemeinsame Käuferin der Rohstoffe und Werkzeuge und als gemeinsame Verkäuferin der von ihr hergestellten Produkte auf. Die einzelnen Zünfte vereinen auf sich alle überlebensnotwendigen Funktionen und bilden daher eine autonome Gesellschaft im Kleinen. Sie haben eine eigene Gerichtsbarkeit und stellen bei militärischen Konflikten eine eigene Schar. So gründet der Wohlstand der mittelalterlichen Städte auf der Autonomie ihrer Zünfte.

Der Niedergang der Zünfte und der freien Städte wird durch das Erstarken der Zentralstaaten im 16. Jahrhundert eingeläutet. Diese zerstören die Netzwerke gegenseitiger Hilfe, indem sie den Gemeinbesitz privatisieren und die Gilden verbieten, um keinen „Staat im Staate“ entstehen zu lassen.

Gegenseitige Hilfe in der modernen Gesellschaft

Kropotkin beschreibt, wie sich Prinzipien der Dorfmark in einigen ländlichen Gemeinden noch haben halten können. Kropotkin führt dafür Beispiele von Gemeinschaften in Deutschland, England, Frankreich und der Schweiz an. Genossenschaften und Syndikate wurden für gemeinsame Projekte gebildet, wie für den gemeinschaftlichen Erwerb von Dünger oder zur Finanzierung einer Wasserpumpe für alle. In Deutschland beschreibt Kropotkin beispielsweise die Kegelbrüder und den Fröbelverein, der das System der Kindergärten einführte. In Großbritannien beschreibt er die Lifeboat association als Institution gegenseitiger Hilfe. Er verweist speziell auf die Erhaltung der Artels in Russland, der Balkanhalbinsel und dem Kaukasus, wo diese kleinen genossenschaftlichen Zusammenschlüsse von Bauern, Händlern und Handwerkern gebildet wurden, um gemeinsame Angelegenheiten zu regeln.

Zitat

„Jedesmal indessen, wo man daran ging, zu diesem alten Prinzip [der gegenseitigen Hilfe] zurückzukehren, wurde seine Grundidee erweitert. Vom Clan dehnte es sich zur Völkerschaft aus, zum Bund der Völkerschaften, zum Volk und schließlich – wenigstens im Ideal – zur ganzen Menschheit. Zugleich wurde es auch veredelt. Im ursprünglichen Buddhismus, im Urchristentum, in den Schriften mancher muselmanischen Lehrer, in den ersten Schriften der Reformation und besonders in den ethischen und philosophischen Bewegungen des letzten Jahrhunderts und unserer eigenen Zeit, setzt sich der völlige Verzicht auf die Idee der Rache oder Vergeltung – Gut um Gut und Übel um Übel – immer kräftiger durch. Die höhere Vorstellung: „Keine Rache für Übeltaten“ und freiwillig mehr zu geben, als man von seinen Nächsten zu erhalten erwartet, wird als das wahre Moralprinzip verkündigt – als ein Prinzip, das wertvoller ist als der Grundsatz des gleichen Maßes oder die Gerechtigkeit, und das geeigneter ist, Glück zu schaffen. Und der Mensch wird aufgefordert, sich in seinen Handlungen nicht bloß durch die Liebe leiten zu lassen, die sich immer nur auf Personen, bestenfalls auf den Stamm bezieht, sondern durch das Bewusstsein seiner Einheit mit jedem Menschen. In der Betätigung gegenseitiger Hilfe, die wir bis an die ersten Anfänge der Entwicklung verfolgen können, finden wir also den positiven und unzweifelhaften Ursprung unserer Moralvorstellungen; und wir können behaupten, dass in dem ethischen Fortschritt des Menschen der gegenseitige Beistand – nicht gegenseitiger Kampf – den Hauptanteil gehabt hat. In seiner umfassenden Betätigung – auch in unserer Zeit – erblicken wir die beste Bürgschaft für eine noch stolzere Entwicklung des Menschengeschlechts.“

– Peter Kropotkin: Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt[7]

Ausgaben

Literatur

Weblinks

Anmerkungen

  1. Dabei erschienen die einzelnen Artikel im Nineteenth Century wie folgt: Mutual Aid among Animals, September und November 1890; Mutual Aid among Savages, April 1891; Mutual Aid among the Barbarians, Januar 1892; Mutual Aid in the Mediaeval City, August und September 1894; Mutual Aid Amongst Modern Men, Januar 1896; Mutual Aid Among Ourselves, Juni 1896.

Einzelnachweise

  • Zur aktuellen Relevanz von Kropotkin siehe: Günther Ortmann: Organisation und Welterschließung: Dekonstruktionen. Springer 2008, S. 259 f.
  • Rattner, Josef: Der Humanismus und der soziale Gedanke im russischen Schrifttum des 19. Jahrhunderts. Königshausen & Neumann, 2003, S. 219.
  • Nettlau, Max: Die erste Blütezeit der Anarchie 1886–1894. Geschichte der Anarchie, Band IV. Topos Verlag, Vaduz 1981, S. 32.
  • Kropotkin, Pëtr Alekseevič: Spravedlivost i Nravstvennost. Golos Truda, Petrograd (Sankt Petersburg) / Moskau 1921, S. 45 ff.
  • Jan Sapp: Evolution by Association. Oxford University Press US, 1994, S. 21.
  • Heinz Hug: Peter Kropotkin (1842–1921). Bibliographie. Trotzdem-Verlag, Grafenau 1994, S. 80.
  1. Fürst Peter Kropotkin: Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt Verlag von Theod. Thomas, Leipzig, 1908, S. 274 f.

 

 

Der Föderalismus als Friedensgarantie und das Vorbild der Schweiz «So ist eine Konföderation eine Friedensgarantie sowohl für ihre eigenen Mitglieder als auch für ihre nicht mit ihr verbündeten Nachbarn» 2013 von Dr. phil. René Roca, Historiker, Forschungsinstitut direkte Demokratie . aus Zeit-Fragen.ch 11. September 2013

Der föderalistische Bundesstaat in der Schweiz ist nicht nur eine Frucht der Liberalen, auch die Katholisch-Konservativen haben mit ihrem Beharren auf der kantonalen Souveränität viel zu dieser konstruktiven Lösung nach dem Sonderbundskrieg beigetragen. Zuwenig werden dabei auch die Beiträge von Frühsozialisten gewichtet, die verstärkt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das föderalistische Modell der Schweiz in die europäische Diskussion einbrachten. Neben dem Föderalismus förderten die Frühsozialisten in der Schweiz auch die Genossenschaftsbewegung, die an das Genossenschaftsprinzip des Ancien Régimes anknüpfte. Damit schufen sie zusammen mit den Katholisch-Konservativen eine wichtige Grundlage, um die direkte Demokratie zu entwickeln.1

Pierre-Joseph Proudhon (1809  –1865) vertrat als französischer Frühsozialist einen libertären Ansatz und setzte sich für föderalistische Strukturen ein, welche die politische Macht dezentral verteilen. In der Schweiz fand er mit dem Bundesstaat von 1848 solche Strukturen, und diese nahm er sich zum Modell, um sie mit anderen Frühsozialisten in Deutschland und im übrigen Europa zu diskutieren. Leider wurden solche Ansätze nur begrenzt im Rahmen einer freien Diskussion debattiert. Karl Marx (1818  –1883) diskreditierte das Werk Proudhons und ritt eine Kampagne gegen ihn. Ein solches Vorgehen war symptomatisch dafür, dass es der sozialistischen Bewegung im nationalen und internationalen Kontext nicht gelang, den Frieden nachhaltig zu fördern und die beiden Weltkriege zu verhindern. Vielmehr wurden dezentrale, libertäre Ansätze wie derjenige Proudhons auf Kosten von autoritären, staatssozialistischen Theorien verdrängt. Der Schweizer Historiker Adolf Gasser (1903  –1985) nahm noch während des Zweiten Weltkrieges die fruchtbaren Ideen Proudhons auf und würdigte dessen Föderalismustheorie in seinem wegweisenden Werk «Gemeindefreiheit als Rettung Europas. Grundlinien einer ethischen Geschichtsauffassung».2

Gasser geht in seiner Abhandlung intensiv der Frage nach, welche politischen und ethischen Grundsätze ein konstruktives Gemeinschaftsleben gewährleisten. Diese Frage, so Gasser, hätten die Intellektuellen bisher zu wenig genau untersucht. So habe der europäische Liberalismus zwar im Bereich der politischen Verfassung und der Wirtschaft durchaus die Idee der Freiheit umgesetzt, aber in der ­politischen Praxis sei über das Formal­juristische hinaus (gleich wie im europäischen Sozialismus) der administrative Autoritarismus erhalten geblieben. Viele Liberale hätten es nicht vermocht, sich vom bürokratischen Zentralismus, von einem militärähnlichen Befehlsapparat zu lösen. Bleibe die Gemeinde aber als unterste politische Ebene in einem solchen Gebilde ein blosses Werkzeug der Regierungsgewalt, könne sich für die liberale Demokratie mit der Machtfülle des Staatsapparates eine verhängnisvolle Entwicklung hin zu autoritären Staatsformen ergeben.

Proudhon und das Modell des schweizerischen Bundesstaates

Im Zusammenhang mit seiner Erkenntnis, dass nur ein föderalistischer Staat mit umfassender Gemeindeautonomie Garant für ein konstruktives Gemeinschaftsleben sein kann, erwähnt Gasser neben anderen Föderalismusforschern auch Pierre-Joseph Proudhon. Der anarchistische Theoretiker Proudhon, so Gasser, habe zwar den von unten her gegliederten Gesellschaftsaufbau betont, den «Staat» aber in allzu kompromissloser Weise bekämpft, indem er den Begriff «Staat» mit dem obrigkeitlichen Ordnungsprinzip der Beamtenhierarchie und der Befehlsverwaltung völlig gleichsetzte. «Staat», meint Gasser, definiere sich aber unterschiedlich. Eine Staatsordnung könne durchaus auf dem allgemeinen Willen zur lokalen Selbstverwaltung beruhen, wie beispielsweise der Aufbau des schweizerischen Bundesstaates zeige. Für Proudhon war aber gerade der schweizerische Bundesstaat ein Beispiel einer ­Föderation, die man nicht mehr «Staat» nennen kann.

Diese unterschiedlichen Sichtweisen waren für Gasser kein Grund, Proudhon nicht in seine grundsätzlichen Überlegungen einzubeziehen. Er erwähnt im speziellen Proudhons Werk «Du principe fédératif»3, das 1863 erstmals publiziert wurde und ihn stark beeinflusste.

Proudhon versuchte als einer der ersten, philosophisch die «Theorie des föderativen Systems» darzulegen. Unter so vielen Verfassungen, die die Philosophie vorschlage und die die Geschichte in der Erprobung zeige, vereinige das föderative System als «einzige[s] die Bedingungen für Gerechtigkeit, Ordnung, Freiheit und Dauer».4 Für Proudhon beruht jede politische Ordnung im wesentlichen auf einem grundlegenden Dualismus: auf demjenigen von Autorität und Freiheit. Diese beiden Grundsätze seien unauflöslich aneinander gebunden: «Autorität ohne eine Freiheit, die diskutiert, Widerstand leistet oder sich unterwirft, ist ein leeres Wort; Freiheit ohne Autorität, die ein Gegengewicht zu ihr bildet, ist ein Unsinn.»5

Proudhon untersucht in seinem Buch vier Regierungsformen, die alle vom Gegensatzpaar Autorität und Freiheit geprägt sind: Unter der «Herrschaft der Autorität» subsumiert er die Monarchie und den Kommunismus, die sich durch die Ungeteiltheit der Macht auszeichneten; unter der «Herrschaft der Freiheit» teilt er die Demokratie und die Anarchie ein, die eine Teilung der Macht vornehmen würden. Die Idee einer Teilung der Macht oder die Trennung der Gewalten ist für Proudhon eine der grössten bisherigen Errungenschaften in der politischen Wissenschaft. Proudhon nannte sich selber «Anarchist», benutzt aber in seiner Schrift nicht mehr weiter den Begriff «Anarchismus», sondern stellt die «Idee der Föderation» ins Zentrum, die für ihn wohl eine Art Synthese der Demokratie und des Anarchismus war.

Autorität und Freiheit in ein vernünftiges Gleichgewicht bringen

Proudhon stellt weiter fest, dass die Regierungssysteme, die zu seiner Zeit die politische Praxis prägten, nicht fähig seien, Autorität und Freiheit in ein vernünftiges Gleichgewicht zu bringen. Resultat ist ein «Durcheinander von Herrschaftssystemen», die geprägt sind von Willkür und Korruption. Ausgehend von dieser ernüchternden Gegenwartsanalyse will Proudhon wissen, «ob die Gesellschaft zu etwas Regulärem, Rechtem, Festem kommen kann, das die Vernunft und das Gewissen zufriedenstellt.»6 Er widmet sich im folgenden der «Freilegung der Idee ‹Föderation›» und stellt die «Idee des Vertrages»7 an den Anfang seiner Überlegungen. Im föderativen System nach Proudhon ist der politische Vertrag ein tatsächlich wirksamer Vertrag, der vorgeschlagen, über den diskutiert und abgestimmt wird. Der politische Vertrag, für Proudhon alles andere als fiktiv, gewinne seine ganze Würde und Sittlichkeit nur unter zwei Bedingungen: «1. Er muss wechselseitig und ein Tausch-Vertrag sein; 2. Er muss sich hinsichtlich seines Gegenstandes innerhalb gewisser Grenzen bewegen.»8 Für den einzelnen Bürger, der mit dem Staat einen solchen politischen Vertrag abschliesst, muss folgendes gewährleistet sein: 1. Der Bürger muss vom Staat genauso viel bekommen, wie er ihm abtritt und 2. Der Bürger muss seine ganze Freiheit, Souveränität und Initiative behalten. Damit beschreibt Proudhon exakt die direktdemokratische politische Kultur der Schweiz, die damals die Bürger in Form der Initiative und des Referendums in harten ­politischen Kämpfen erfochten. Proudhon geht dann noch einen Schritt weiter, indem er ausführt:

«Was das Wesensmerkmal des föderativen Vertrages ausmacht und worauf ich die Aufmerksamkeit des Lesers hinlenke, ist, dass in diesem System die Vertragschliessenden, Familienoberhäupter, Gemeinden, Bezirke, Provinzen oder Staaten sich nicht nur wechselseitig und ausgleichend die einen gegenüber den anderen verpflichten; vielmehr behalten sie jeder einzeln bei Abschluss des Vertrages mehr Rechte, mehr Freiheit, mehr Autorität und mehr Eigentum zurück, als sie abtreten.»9

Proudhon betont   – dabei einen zentralen Gedanken Rousseaus aufgreifend   –, dass die dem Bund zugeteilten Befugnisse an Zahl und Sachinhalt nie diejenigen kommunaler oder provinzialer Behörden («autorités») überschreiten dürfen. Das Wesensmerkmal des Proudhonschen Föderalismus ist, dass in allen vertikalen Vertragsstrukturen die Macht übergeordneter Instanzen gegenüber untergeordneten abnehmen muss. Gasser übernahm diesen Gedanken von Proudhon und bezeichnete den «Staat» als «föderalistisches Gemeinwesen der Zukunft» und als eine «freiwillige vertragliche Föderation von Gemeinden».10 Proudhon erwähnt den schweizerischen Bundesstaat als einziges Beispiel, das seine genannten Wesensmerkmale in die Praxis umgesetzt habe. Er zitiert im folgenden verschiedene Artikel der Bundesverfassung von 1848, um diese Aussage zu unterstreichen:

«Art.2: Die Konföderation hat zum Ziel, die Unabhängigkeit des Vaterlandes gegenüber dem Ausland zu sichern, Ruhe und Ordnung im Innern aufrechtzuerhalten, die Freiheit und Rechte der Konföderation zu schützen und ihr gemeinsames wirtschaftliches Gedeihen zu steigern.

Art.3: Die Kantone sind souverän, soweit ihre Souveränität nicht durch die Souveränität des Bundes begrenzt wird, und als solche üben sie alle Rechte aus, die nicht der Bundesgewalt übertragen sind.

Art.5: Die Konföderation gewährleistet den Kantonen ihr Territorium, ihre Souveränität in den durch Art.3 festgelegten Grenzen, ihre Verfassungen, die Freiheit und Rechte des Volkes, die verfassungsmässigen Rechte der Bürger sowie die Rechte und Befugnisse, die das Volk den Behörden übertragen hat.»11

Die Bundesverfassung von 1848 erwähnt mit keinem Wort die Gemeinden. Es lag in der Souveränität der Kantone, die Gemeindefreiheit zu gewähren. Implizit war aber klar, dass die unterste Staatsebene die Gemeindeebene darstellt und das Subsidiaritätsprinzip gewährleistet ist. Proudhon sagt über dieses schweizerische «Staatsgebilde»: «Somit ist eine Konföderation genau genommen kein Staat. Sie ist vielmehr eine Gruppe souveräner und unabhängiger Staaten, die durch einen Vertrag gegenseitiger Garantie verbündet sind.»12 Für Proudhon war der schweizerische Bundesstaat der praktische Beweis, dass sich seine Idee der Föderation umsetzen liess.

Das föderative System als Friedensgarantie

Zusammenfassend führt Proudhon aus, «dass das föderative System das Gegenteil der Hierarchie bzw. der Verwaltungs- und Regierungszentralisation ist, durch die sich gleichermassen die Kaiserdemokratien, die konstitutionellen Monarchien und die einheitsstaatlichen Republiken auszeichnen».13

Der eigentliche Gesellschaftsvertrag ist für Proudhon immer ein Föderationsvertrag, der durch einen Rechtsakt zwischen Bürger und Staat geschlossen wird. Somit kommen die beiden gegensätzlichen Pole «Autorität» und «Freiheit» in ein Gleichgewicht. Mit der Zeit würde die Gemeinschaft von Bürgern erreichen, «dass die erstere ständig abnimmt, die letztere aufsteigt […] und dass auf diese Weise die Freiheit danach strebt, das Übergewicht zu erlangen, die Autorität darauf gerichtet ist, Dienerin der Freiheit zu werden.»14 Für Proudhon ist das föderative System auf alle Völker und Zeiten anwendbar und eine «Friedensgarantie sowohl für ihre eigenen Mitglieder, als auch für ihre nicht mit ihr verbündeten Nachbarn.»15

Neben der Friedenssicherung erwähnt Proudhon weitere ethische Grundsätze, die ein föderatives System schafft: «Das föderative System gebietet dem Aufbrausen der Massen Einhalt sowie jeder Art von Ehrgeiz und Erregung der Demagogie: Es bedeutet das Ende der Herrschaft der öffentlichen Plätze und der Triumphe der Tribüne, aber auch der Aufsaugung der regionalen Hauptstädte.»16

Diese ethischen Auswirkungen sind durchaus mit Gassers «ethischem Kollektivismus» zu vergleichen. Das föderative und direktdemokratische System, wie es die Schweiz ab 1848 prägte, ist nicht nur eine bestimmte dezentrale Gesellschaftsstruktur. Die Menschen, die darin leben, schaffen auch Werte, die dem friedlichen Zusammenleben förderlich sind und die Gesellschaft konstruktiv prägen. Gasser war nach dem Zweiten Weltkrieg unermüdlich bestrebt, seinen föderativen und direktdemokratischen Ansatz national und international einzubringen und zu diskutieren. In diese Fussstapfen zu treten, lohnt sich sehr.

  1. Vgl. Roca, René: Wenn die Volkssouveränität wirklich eine Wahrheit werden soll … Die schweizerische direkte Demokratie in Theorie und Praxis   – Das Beispiel des Kantons Luzern, Schriften zur Demokratieforschung, Band 6, Zürich-Basel-Genf 2012.
  2. Vgl. Gasser, Adolf: Gemeindefreiheit als Rettung Europas. Grundlinien einer ethischen Geschichtsauffassung, 2. stark erweiterte Auflage, Basel 1947.
  3. Vgl. Proudhon, Pierre-Joseph: Über das Föderative Prinzip und die Notwendigkeit, die Partei der Revolution wieder aufzubauen, Teil 1 (1863), Frankfurt a. M. 1989 (Demokratie, Ökologie, Föderalismus. Schriftenreihe der Internationalen Gesellschaft für Politik, Friedens- und Umweltforschung e.V., hg. von Lutz und Regine Roemfeld, Band 6).
  4. Proudhon, Prinzip, S. 29.
  5. Proudhon, Prinzip, S. 30.
  6. Proudhon, Prinzip, S. 64.
  7. Proudhon, Prinzip, S. 69.
  8. Proudhon, Prinzip, S. 71.
  9. Proudhon, Prinzip, S. 73.
  10. Gasser, Adolf: Geschichte der Volksfreiheit und Demokratie, zweite Auflage, Aarau 1949, S. 231; vgl. auch Gasser, Gemeindefreiheit, S. 22f.
  11. Proudhon, Prinzip, S. 74f.; vgl. auch: Kölz, Alfred: Quellenbuch zur neueren schweizerischen Verfassungsgeschichte. Vom Ende der Alten Eidgenossenschaft bis 1848, Bern 1992, S. 447f.
  12. Proudhon, Prinzip, S. 75.
  13. Proudhon, Prinzip, S. 75.
  14. Proudhon, Prinzip, S. 84.
  15. Proudhon, Prinzip, S. 90.
  16. Proudhon, Prinzip, S. 99.

Quelle:
http://www.zeit-fragen.ch/index.php?id=1558

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Unerwartete Eindrücke - Bericht unserer Russlandreise vom 24.7.-7.8.2024
An sechs verschiedenen Orten wurden wir eingeladen, Seminare über
Zukunftsperspektiven für Pädagogik, Landwirtschaft und Ökonomie zu
halten.
1. Eindrücke der äußeren Rahmenbedingungen
2. Eindrücke von den Menschen vor Ort
3. Fragen zum Krieg, Putin und Geschichte wurden offen beantwortet
4. Geschichtliches
5. Eindrücke von unseren Seminaren
6. Zusammenfassung

1. Eindrücke der äußeren Rahmenbedingungen
Die Visa beantragten wir per Internet ein paar Tage vor dem Abflug und
erhielten sie innerhalb von drei Tagen.
Wir flogen von Belgrad nach St. Petersburg. Zurück flogen wir von Moskau
nach Belgrad, da es von der Schweiz und Deutschland aus wegen der
Sanktionen keine Flüge gibt.
Bei der Ein- und Ausreise gab es keinerlei Schwierigkeiten.
Die Flughäfen, Autobahnen und U-Bahnen in Russland sind großzügig und
praktisch angelegt, alles war auffallend sauber.
Man sieht so gut wie keine Bettler oder Obdachlosen auf den Straßen,
alkoholisierte Menschen haben wir nicht gesehen. Polizei war selbst in den
Großstädten kaum präsent, nur im Falle eines Unfalls.
Die Altstadt von St. Petersburg (5-6 Millionen Einwohner) erlebten wir als
sehr schöne und kulturell lebendige Stadt mit vielen Wasserkanälen.
Sie ist weit sauberer und schöner als Venedig (man möge sich nur eines der
vielen YouTubes der Stadt anschauen.).
Die meisten Menschen wohnen in rein funktionell angelegten Vorstädten in
Wohnblocksiedlungen von 15-30 Etagen Höhe. Da ist keinerlei Schönheit in
der Stadtplanung erkennbar, nur kleine Parks am Fuße der gigantischen
Bauten geben etwas Aufenthalts- und Spielraum. Ordentlich war es auch da.
Der Nachtzug nach Moskau (ca. 700 km) war gepflegt, funktional und
ordentlich, die Menschen freundlich und friedlich. Wir bezahlten für einen
Schlafplatz im Viererabteil etwa 30 €.
Die meisten Russen reisen allerdings nachts im Großraumschlafwagen mit 50
Schlafplätzen.
In Moskau (12-13 Millionen Einwohner) ist das Gesamtstadtbild nicht sehr
schön, aber herausragend sind die Kathedrale, der rote Platz, der Kreml und
die künstlerisch gestalteten (kommunistisch-bolschewistischen) Metro-
Stationen und öffentlichen Plätze.
Eine Taxifahrt in Moskau von ca. 12 km in 30 Minuten kostet etwa 13 €.
Benzin und Diesel kosten ca. 60 Cent pro Liter.
Die Löhne in diesen beiden Städten betragen ca. 1000,- € monatlich, auf
dem Lande etwa 500,- €.
Eine Drei-Zimmer-Wohnung in Moskau kostet ca. 600,- €, in St. Petersburg
ca. 500,- €, auf dem Lande etwa die Hälfte.
Im Gegensatz zu den Städten sieht es auf dem Lande ganz anders aus.
Wir sahen auf unserer Tour Richtung Nordosten von Moskau (ca. 800km)
vorwiegend flaches Land und riesige Entfernungen.
Dörfer liegen oft 30 bis 50 Kilometer voneinander entfernt.
Die Landschaft ist vorwiegend geprägt von ehemaligen Landwirtschafts-
flächen, die nun verbuscht sind. Darin sind Bäume, die nicht höher als 15
Meter sind. Weidetiere haben wir gar keine gesehen. Nur selten gab es große,
alte Landwirtschaftsgebäude, die früher wohl Nutztiere beherbergten. Ein
riesiges Potential liegt brach.
Uns wurde gesagt, dass heute die meiste landwirtschaftliche Nutzung im
Süden Russlands stattfindet, da es dort klimatisch günstiger ist.
Große Landstraßen sind in guter Kondition und werden rechts und links 30 m
von Baum und Busch freigehalten. Die kleinen Straßen hingegen sind oft in
sehr schlechtem Zustand.
Die Dörfer erstrecken sich hauptsächlich entlang der Straßen mit alten
Häusern, die noch aus der vorkommunistischen Zeit stammen müssten. Feine
Holzschnitzereien an Giebeln und Fenstern sind wahre Kunstwerke.
Die etwas größeren Orte haben auch gleichförmige, zweistöckige
Steinhäuser, die aus der kommunistischen Phase stammen. Es fiel auf, dass
hier vorwiegend die ältere Bevölkerung zu finden ist, da die Jungen in die
Städte ziehen. In diesen Orten ist kaum Schönheit zu finden, Ordnung und
Sauberkeit sind nur bedingt gegeben. Die Menschen leben in sehr einfachen,
ärmlichen Verhältnissen. Fast jedes Haus hat seine eigene „Banja“- ein kleiner
Schuppen, der als Sauna dient.
Auf der Landreise haben wir nicht ein Flugzeug gesehen, der Himmel war
immer blau und klar. Auch die Seen in Nordwestrussland sind frisch und
sauber. Zwei sehr große Klöster haben wir besucht, die zur Christianisierung
Russlands beitrugen, jetzt belebt sind und nun auch staatliche Unterstützung
für Restaurierungsarbeiten erhalten. Wir sahen in den Dörfern orthodoxe
Kirchen, die zu kommunistischer Zeit zu praktischen Zwecken verwendet
wurden wie Supermärkten oder Gemeindeversammlungsorten. Zum Teil
werden sie nun mit staatlicher Unterstützung wieder hergestellt.

2. Eindrücke von den Menschen vor Ort
Uns fiel auf, dass in den Städten die Menschen gut gekleidet und sehr
gepflegt sind, gute Bildung normal und Höflichkeit eine
Selbstverständlichkeit ist.
Frauen sind häufig recht weiblich gekleidet und weniger freizügig als im
Westen, Männer sind schlicht und männlich gekleidet.
Fashionkleidung gab es kaum.
Extravagante Aufmachung wie bunte Haare oder zur Schau tragen einer
ideologisierten Gendereinstellung sahen wir nicht.
In der Regel sind die Menschen im Kontakt zunächst vorsichtig und fast
schüchtern, aber sehr nett und zuvorkommend. Wenn Wildfremde einander
begegnen und nach dem Wege fragen, so sprechen sie miteinander, als ob
sie sich schon immer kennen würden, familiär, selbstverständlich und
vertraut.
Durch die Seminare, Kulturbesuche und unsere Reisen haben wir mit sehr
vielen Menschen verschiedener Bevölkerungsschichten gesprochen. Wo
immer wir waren, haben wir sehr viel Kontakt gesucht und den Menschen
auch zu kritischen Dingen Fragen gestellt.
Ob Taxifahrer, Verkäufer, Bedienung, Lehrer, Arzt- immer wurde uns
bereitwillig und offen geantwortet. In keiner Weise fanden wir ein
eingeschüchtertes Volk vor. Eine sehr große Gastfreundschaft erwartete uns,
jeder wollte die Kosten für Essen und Trinken übernehmen.
Überall bestand ein sehr großes Interesse, ja fast Dankbarkeit dafür, mit uns
näher in Kontakt zu kommen. Wir als Deutsche wurden förmlich verehrt
(obwohl die Deutschen im letzten Weltkrieg über zwanzig Millionen Russen
töteten). Eine deutsche Kultur (Bach-Musik, Goethe-Verständnis, Fragen zu
Nietzsche, Schiller) lebt in vielen Menschen dort und wird aktiv studiert und
kultiviert.
Ein russischer Freund sagte zu uns:
„Die Russen sind wie die Jugendlichen, die die Eltern brauchen: die
Deutschen!“
Viele Russen sprechen Deutsch, besonders ab 40 aufwärts. Mit den jüngeren
Generationen kann man auf Englisch kommunizieren.
Erstaunlich war für uns, dass man trotz der Sanktionen eigentlich alles in den
Geschäften bekommt, was man braucht.
Einheimische sagten uns dazu, eben durch die Sanktionen habe die russische
Wirtschaft einen Aufschwung erfahren. Die Russen wurden kreativ und
produzieren nun selber, was sie brauchen.

3. Fragen zum Krieg, Putin und Geschichte wurden offen beantwortet
Auch auf unsere Fragen zum Krieg mit der Ukraine wurde uns offen
geantwortet.
Rein äußerlich wirkt das Leben ganz normal und entspannt. Nur scharfe
Gepäckkontrollen an den U-Bahn-Stationen lassen eine leichte Nervosität
spüren.
Nach etlichen Gesprächen mit vielen Menschen wurde deutlich, dass die
Frage nach dem Krieg alle beschäftigt.
Was konnten wir dazu erfahren?
Nirgendwo bemerkten wir Hass gegenüber der Ukraine.
Im Gegenteil:
Viele beten für beide Seiten, da sie die Ukrainer als ihre Brüder ansehen. Sie
haben auch nichts gegen die westliche, von Amerika dominierte
Bevölkerung.
Ihnen ist aber sehr bewusst, dass dieser Krieg und andere immer wieder von
den anglosächsischen, kapitalistischen Hintermännern initiiert wurden. Auch
ist ihnen klar, dass sie gar nicht als Land verlieren können, da sie im Falle
einer Bedrohung zusammenhalten und wenn sie noch so viele Opfer
aufbringen müssen. Sie bedauern aber, das ggf. tun zu müssen.
Selbst ein Pazifist hat uns gesagt, wenn sein Land wirklich von den
westlichen Mächten überwältigt zu werden drohe, könnte es sein, dass er es
verteidigen würde, auch mit Waffe.
Aber eigentlich sind sie weder kriegerisch noch angriffswillig, geschweige
denn, dass sie Land erobern wollen.
Amüsement über die Behauptung des Westens, sie wollten Territorium
erobern, schlug uns mehrfach entgegen.
Land brauchen sie definitiv nicht, im Gegenteil, sie haben zu viel davon!
Warum sollten sie andere Länder einnehmen wollen, da sie nicht einmal
genug Bevölkerung haben, um das eigene zu besiedeln?
Wir haben auch gehört, dass viele Menschen über den Einmarsch der Russen
in die Ukraine im Februar 2022 geschockt und dagegen waren. Zahlreiche
Männer haben daraufhin Russland aus Furcht, eingezogen zu werden,
verlassen.
Nach weiterem Verfolgen der Geschehnisse und deren Vorgeschichte sind die
meisten inzwischen zurückgekehrt. Heute sehen sie es als Notwendigkeit,
den westlichen Übergriffen klar etwas entgegenzuhalten.
Nichtsdestotrotz bekümmert sie das kriegerische Vorgehen sehr und sie
lehnen es an sich ab. Das war auch einer der Gründe, warum wir mit so
offenen Armen empfangen wurden. Sie waren dankbar für einen realen
Kontakt und wollen keinen Krieg.
Der Wortbruch des Westens, nach Auflösung des Warschauer Paktes die
NATO nicht in die ehemaligen Sowjetstaaten auszuweiten, bedrückt sie sehr.
Sie fragen sich u.a.:
Warum hat Amerika die Demonstrationen 2014 auf dem Maiden in Kiew
initiiert und die rechtmäßig gewählte Regierung abgesetzt, um dann mit der
von ihnen eingesetzten neuen Regierung Propaganda gegen die russisch
sprechende Bevölkerung zu führen, ja sogar deren Sprache zu verbieten?
Seit dieser Zeit wird die russisch sprechende Bevölkerung im Osten der
Ukraine massiv beschossen, wobei tausende von Menschen ihr Leben
verloren.
Weil die Minsker Abkommen nicht eingehalten wurden und immer mehr
Russisch sprechende Menschen im Osten der Ukraine durch die neue
Regierung in Kiew getötet wurden, wiederholte die russische Regierung
immer wieder die Aufforderung, die Kiewer Vereinbarung einzuhalten und
das Morden zu stoppen.
Es wurde aber nicht nur fortgesetzt, sondern noch gesteigert bei
gleichzeitiger Aufrüstung Kiews durch den Westen!
Nachdem weder Verhandlungen noch Mahnungen erhört wurden, gebot die
russische Regierung dem Morden an den Russen durch militärisches
Einschreiten Einhalt.
Heute werden sie im Westen als Aggressor bezeichnet.
Viele Russen fragen sich, warum sie immer wieder, in der Geschichte und
auch jetzt, als die Bösen hingestellt werden.
Sie fragen sich, was sie denn hätten tun sollen?
Denn sie lesen sehr wohl, was im Westen einseitig über Russland und den
Krieg geschrieben wird.
Der Zugang zu den westlichen Medien ist frei.
Der Zugang im Westen zu der russischen Berichterstattung ist erschwert.
Zum Beispiel ist RT Russland in Deutschland verboten.
Warum?
Auf die Frage, wie viele denn von den russischen Soldaten gefallen seien,
konnten nur Schätzungen genannt werden (z. B. 200.000), da diese nicht
öffentlich bekannt sind.
Es wird aber mit den Todesfällen offen in den Zeitungen umgegangen und
jede Familie erhält ca. 80.000,- € für einen gefallenen Angehörigen.
Wir sahen manchmal Werbeplakate des Militärs, auf denen Freiwilligen für
den Eintritt in die Armee 30.000,- € geboten werden. Der monatliche Sold
beträgt etwa 2000,- € für einen Soldaten. Uns wurde gesagt, dass die Armee
keinerlei Schwierigkeiten habe, Soldaten zu bekommen. Niemand werde
gezwungen. Man sieht viele junge Männer in den Straßen, wobei vom
Eindruck her doch die Frauen in der Mehrzahl sind.
Zur Frage, wie die Menschen zu Putin stehen und wie sie ihn einschätzen,
kam uns durchweg ein positives Bild entgegen.
Nur einmal trafen wir jemanden, der sich energisch gegen Putin aussprach.
Durchweg trafen wir ein großes Wohlwollen an, da er dem ganzen Land einen
wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung bescherte, Verbrechen und
Alkoholismus seit seiner Führung massiv zurückgehen und man sich
wesentlich freier und sicherer fühlt.
Es wird sehr begrüßt, dass er die Korruption im Lande mehr und mehr
eindämmt.
Es wurde uns erzählt, dass Putin einen Balanceakt halte, da er einerseits das
Land nach außen hin verteidige und andererseits nach innen hin säubere.
Den in Russland für den Westen und/oder egoistische Eigeninteressen
agierenden Oligarchen gebiete er nach und nach Einhalt. Die oft westlich
geprägten Behörden reinige er mehr und mehr von den landesfremden
Interessenvertretern.
Wir hörten, dass gerade der medizinische Bereich sehr unter dem Einfluss der
pharmadominierten WHO stehe und er deswegen in seinem
Entscheidungsspielraum für sein Land eingeschränkt sei.
Da die Bevölkerung aufgrund ihrer Erfahrungen wenig Vertrauen in die
Behörden hat und weiß, dass von dort nicht immer nur Gutes kommt, wurden
die Anordnungen zum Beispiel während der Corona-Zeit nicht eingehalten
oder zumindest frei gestaltet.
Wir fragten auch mehrmals nach, ob Putins christliche Haltung als echt oder
gespielt einzuschätzen sei.
Zu dieser Frage kam uns im Allgemeinen entgegen, dass er dies-bezüglich
sehr glaubwürdig sei. Einer unserer Kursteilnehmer konnte durch Kontakte
zu dem näheren Umfeld Putins die Aufrichtigkeit seiner christlichen
Bemühungen durchaus bestätigen.


4. Geschichtliches
Mit Verwunderung stellten wir fest, wie viele Menschen in Russland die
europäische und russische Geschichte kennen.
Diese war so schmerzhaft für die russische Seele, dass sie gleichzeitig nicht
richtig ins tägliche Bewusstsein kommen darf.
Es ist so, als wenn sie wüssten, dass sie von ihren Nachbarn verraten und
vergewaltigt wurden, aber dieses aus Scham und Schmerz nicht wahrhaben
können.
Vor etwa tausend Jahren fing das Zusammenwirken der slawischen und
deutschsprachigen Völker an.
Besonders durch Otto den Großen wurden die sehr bodenständigen
slawischen Völker mit den kulturell und technisch weiter entwickelten
deutschsprachigen Völkern fruchtbar zusammengebracht.
Daraus entstanden gesunde, nachhaltige landwirtschaftliche Organismen, die
sich in Dorfgemeinschaften um eine Kirche zusammenschlossen.
Im Westen gruppierten sie sich um die katholisch geprägten und im Osten
um die orthodoxen Kirchen, die eine Führung von Rom ablehnten und eine
viel tiefere Beziehung zum Christus suchten.
Über viele Jahrhunderte impulsierten deutschsprachige Bauern in Russland
das dortige Leben mit Technik und Kultur, sprich deutschem Geistesgut.
Zusammen mit der Besonderheit der russischen Kultur und ihrer liebevollen
Erd- und Geistverbundenheit konnten sich beide gegenseitig zur
Höherentwicklung verhelfen.
Den aufstrebenden englischen Machthabern mit ihren weltweiten
Ausdehnungsbestrebungen war diese deutsch-russische Kultur-verbindung
ein Dorn im Auge.
Schon früh wurde darüber insbesondere bei den Freimaurern nachgesonnen,
wie diese stärker werdende, gegenseitige kulturelle Befruchtung unterbunden
werden könne.
Bedeutend ist, dass der Zar Peter der Große (1673-1725), der in Holland
ausgebildet wurde und nach Russland kam, um von dort aus mit westlicher
Denkweise die Stadt St. Petersburg zu einer Machtzentrale aufzubauen,
wobei er nicht einmal Russisch sprach!
Diese schöne, westeuropäisch geprägte Stadt wurde auf Kosten des
gesamten Landes im Schweiße des russischen Volkes aufgebaut.
Die Führung des ganzen Landes war von nun an de facto eine westliche.
Die Diplomaten von England, Frankreich und Holland gingen dort ein und aus
und führten von St. Petersburg aus durch (ihre) Zaren das ganze Land wie
eine Kolonie.
Wer nicht ihren Vorstellungen entsprach, wurde beseitigt (z.B. Peter III -
1762, Paul I - 1801, Alexander II - 1881, Nikolaus II - 1917).
Die Diplomatensprache in Russland war lange Zeit Französisch.
Immer wieder wurde das russische Volk von dort und später von Moskau aus
in die verschiedensten Kriege geschickt, die den Machtinteressen des
Westens dienten.
Auch das österreichisch-ungarische Vielvölkerreich war für sie ein Störfaktor,
da sich dort durch die deutsch-slawischen Verbindungen eine vielseitige
Entwicklung in wirtschaftlicher, technischer und kultureller Hinsicht vollzog,
mit der sie nicht lange hätten mithalten können.
Darum wurde auch dort im Untergrund eine manipulative Spaltungspolitik
betrieben und der Vielvölkerstaat schließlich im ersten Weltkrieg zerschlagen.
So war in diesem Zusammenhang der Eintritt Russlands in den ersten
Weltkrieg nachweislich von den Engländern orchestriert und besonders die
slawischen und deutschsprachigen Länder verloren viele Millionen Menschen
in diesem Krieg.

Das „kommunistische Experiment“ wurde auch von langer Hand vom Westen
eingefädelt. Den meisten Russen ist bekannt, dass der Dissident Lenin im
Westen gefördert und darin unterstützt wurde, die marxistischen Theorien zu
einem politischen System auszuarbeiten, um es dann in Russland
einzuführen.
In einem plombierten Eisenbahnwaggon wurde er von der Schweiz aus mit
viel Geld durch Deutschland nach Russland gebracht, um dort erst mit den
Sozialisten den Zaren zu stürzen und dann die Sozialisten zu vernichten.
In diesem „kommunistischen Experiment“ wurde das russische Volk von zwei
Seiten schwerst angegriffen und misshandelt:
Erst dadurch, dass das eigenständige Bauerntum mitsamt den in sich
funktionierenden Dörfern vernichtet wurde, indem man sie zwangsenteignete
und zwangsumsiedelte und zum Aufbau von Kolchosen zu kontrollierter
Massenproduktion nötigte.
Über 10 Millionen Bauern kamen dabei ums Leben.
Damals hieß der Bauer in der russischen Sprache „Cristianjen“. Mit ihrer
Ausrottung wurde auch das Wort vernichtet. Es wurde ersetzt durch das
amerikanische „fermer“. Die Russen wurden so von ihrer geliebten Mutter
Erde, mit der sie ganz verbunden waren, getrennt.
Dann wurden sie ihrer christlich-orthodoxen Kirche beraubt, um ihre
geistigen Verbindungen zu kappen. Sie wurde verboten. Nur heimlich und
besonders auf dem Lande pflegten die Menschen weiterhin ihren Glauben.
Sie wurden also ihrer irdischen und ihrer geistigen Identität beraubt. So
wurden sie in den reinen Materialismus gedrängt.
Es ist ein regelrechtes Wunder, dass die „russische Seele“ dies überleben
konnte. Wir waren bei unserem Besuch erstaunt, wie stark doch diese
Volksseele ist, nach dem, was ihr angetan wurde und wird.
(Anmerkung der Autoren: Die gesamte Menschheit wird derzeit, auch im
Kapitalismus, im chinesischen Kommunismus und im Arabismus einerseits
ihres Bodens, der Mutter Erde beraubt und andererseits der geistigen
Fähigkeiten. Um diese beiden Bereiche wieder zu stärken, braucht es
gewaltiger Seelenanstrengungen, die wohl kaum noch ein Volk aufbringen
kann, da wir alle schon derart degeneriert sind. Die Seele ist das Bindeglied
zwischen Körper und Geist. Für den weltweiten Wiederaufbau von Erde und
Kultur werden wir sicherlich auf die gewaltigen Fähigkeiten der „russischen
Seele“ angewiesen sein.)
Auch schmerzhaft und unverständlich ist es für die Russen zu verstehen,
dass sie, obwohl sie den Sieg über Hitler maßgeblich mit enormen Opfern für
das gesamte Volk herbeiführten, heute bei den Siegerfeiern in Deutschland
und der Normandie ausgeladen werden.
Nach dem zweiten Weltkrieg gab es ein Wettrüsten zwischen dem Warschauer
Pakt und der NATO, dem die kommunistischen Länder mit ihrer staatlich
gesteuerten Wirtschaft nicht mehr gewachsen waren. Die Wirtschaft lag
faktisch am Boden.
Nach Gorbatschow gewann Jelzin mit massiver westlicher Unterstützung die
Wahl. Er verkaufte im Grunde sein eigenes Land an den Westen für ein Ei und
ein Butterbrot. Die russische Wirtschaft ging weiter in die Knie.
Erst unter Putin gelang es dem russischen Volk, langsam wieder auf die Füße
zu kommen. Er wollte sein Land in die wirtschaftliche, kulturelle und
politische Unabhängigkeit führen, um aus einer eigenständigen kräftigen
Position fruchtbar mit dem Westen und insbesondere Deutschland zusammen
zu arbeiten.
Man erinnere sich nur an seine Rede vor dem deutschen Bundestag am 25.
September 2001. Ein gewisses Aufatmen ging damals durch die
deutschsprachigen und slawischen Nationen. Dies widerstrebte den
englischen und amerikanischen kapitalistischen Führern und wurde Stück für
Stück untergraben, bis hin, dass Putin allmählich über die Medien zu einem
Diktator aufgebaut wurde, der Europa und damit die ganze Welt angreifen
wolle.
Es wurden dann zunehmend NGOs in Russland gegründet, die eine
Opposition gegen Putin aufbauen sollten. Soros war da ganz vorne an. Die
Unterbindung dieser Organisationen durch Putin wurde im Westen dann als
diktatorische Maßnahme hingestellt. (Diese Vorgehensweise, einen
Staatsmann zum „Diktator“ zu erklären, wenden die westlichen Führer mit
den ihnen gehörenden Medien immer dort an, wo ihnen eine Regierung nicht
hörig ist.
Diese soll dann gestürzt werden, um das jeweilige Volk „zu retten“. Ein
immer wiederkehrendes Prinzip, in dem erst einmal die Opposition massiv
unterstützt und aufgebaut wird.
Man schaue sich nur Jugoslawien, Irak, Tunesien und Jordanien an und in
welche katastrophale Lage sie nach ihrer vermeintlichen Rettung gebracht
wurden.
In der Ukraine lief es mit der vorherigen Regierung von Wiktor Janukowytsch
wieder genauso. Er wollte sich nicht einseitig dem Westen zuwenden,
sondern gleichwertig mit Russland verbunden bleiben. Auch er wurde vor
seinem Sturz weltweit zum Diktator erklärt.


5. Eindrücke von unseren Seminaren
Wir wurden an sechs Orten von Gruppierungen eingeladen, die schon am
Aufbau von Waldorfpädagogik-, Landwirtschafts- oder
Gemeinschaftsprojekten arbeiten.
Allen war gemeinsam, dass sie nach weiteren Perspektiven suchten, da es
ihnen an Verantwortlichen und fachkompetenten Mitgliedern sowie Finanzen
fehlt.
Unsere praktischen Erfahrungen und Lösungsansätze in all diesen Bereichen
nahmen sie dankbar an. Besonders offen waren sie für die Arbeit an
Dorforganismen, da dadurch die Probleme ganzheitlich überwunden werden
können.
Sie konnten durch die gemeinsame Arbeit und unsere praktischen Beispiele
sehen, warum zu einseitig gedachte und organisierte Projekte kaum
vorankommen.
Besonders schön zu erleben war, dass ihre Projekte auf fast
selbstverständliche Weise gesellschaftsdienliche, über das persönliche
Interesse hinausreichende Ziele verfolgen.
Nicht Selbstversorgung als Lösungsweg, sondern das Wohl der weiteren
Gesellschaft steht im Mittelpunkt ihrer inneren Motivation.
Solch eine weite Seelenhaltung hatten wir nicht erwartet.
Es scheint uns als ideale Kombination, diese Haltung mit den
Organisationskräften des Westens zu verbinden.
Da es weder gesunde Landwirtschafts- noch Dorforganismen gibt und kaum
mehr eine Vorstellung davon besteht, sind sie dankbar für jede Hilfe in dieser
Richtung.
Es braucht dort dringend Helfer für den Aufbau von ganzen Dorforganismen
mit Bildung, Landwirtschaft und Gesundheit. Wir wurden mehrmals gebeten,
dabei behilflich zu sein, auch bei der Vermittlung von Fachkräften aus
Deutschland.
Über den Gedanken, dass die Finanzierung von Bildung und Landwirtschaft
auf möglichst vielen Schultern der Bevölkerung liegen muss, um sie von Staat
und Kapitalmächten zu befreien, waren sie im ersten Moment verblüfft.
Man ist es doch gewohnt, dass der Staat alles finanziert.
Die erste Überraschung wich aber sehr schnell einer regelrechten Befreiung.
Sie spürten, dass dadurch sehr schnell eine gesunde gesellschaftliche
Ordnung hergestellt werden kann.
Für sie war dann die von uns dargestellte praktische, dreigegliederte
Gesellschaftsordnung naheliegend, ja sie schienen darin eine
gesellschaftliche Entsprechung ihrer Seelenhaltung zu finden, während sie
sowohl den Kommunismus, als auch den Kapitalismus als schädigend für ihr
Sozial-und Seelenleben empfinden.
Wir sahen uns Menschen gegenüber, die sich durch die soziale Ordnung
einfach verstanden fühlten, anstatt den Eindruck zu bekommen, etwas Neues
erringen zu müssen.
Was ihnen also diesbezüglich regelrecht aus der Seele spricht, ist
1. dass die Wirtschaft brüderlich assoziativ gestaltet werden muss,
2. wir auf der rechtlich-politischen Ebene die Gleichheit brauchen,
3. dass Kultur-, Bildungs- und Gesundheitswesen, die Kirchen und der
Journalismus vom Staat und der Kapitalmacht befreit werden müssen.
Sie haben nun am eigenen Leib zwei einseitige Systeme erlebt:
Erstens den Kommunismus, bei dem der Staat alle drei Bereiche beherrscht.
Zweitens den Kapitalismus, in dem das Kapital (falsch verstandene
Wirtschaft) alle drei Bereiche beherrscht.
(Anmerkung: Auch wenn die Religion alle drei Bereiche beherrscht, ist eine
Gesellschaftsordnung nicht gesund, Bsp. Islam.)
Dass eine Gesundung der Sozial- und Wirtschaftsverhältnisse nur geschehen
kann, wenn die Säulen Landwirtschaft und Kultur geheilt werden, war dann
aus dem Gesamtkontext leicht nachvollziehbar.
Unsere aus der Praxis gewonnenen Erfahrungen, die wir mit ihnen teilten,
sogen sie schwammartig auf.
An allen sechs Standorten, an denen wir Seminare mit diesen Inhalten gaben,
möchte man unbedingt an den Themen weiterarbeiten und viele Menschen
mit einbeziehen.
Es hat sich immer wieder bestätigt, dass sie die Verbindung zur praktisch-
ideellen Seite der deutschsprachigen Völker hoch schätzen und händeringend
suchen.


6. Zusammenfassung
Nach all diesen konkreten Erlebnissen, Begegnungen und Erfahrungen ist
das, was im Westen in den Medien über Russland erscheint, geradezu an den
Haaren herbeigezogen und grotesk.
Warum diese Kriegspropaganda des Westens?
Ist den Kriegstreibern überhaupt bewusst, dass sie durch die Schädigung der
Russen weitreichenden Schaden für lange Zeit nicht nur für Europa, sondern
weltweit anrichten?
Durch die Trennung der Europäer voneinander, besonders die Trennung
deutschsprachiger, slawischer und russischer Volksstämme, werden die
Russen in eine Zusammenarbeit mit den Chinesen getrieben. Diese aber
haben eine vollkommen anders ausgerichtete Kultur.
Die polaren Spannungen zwischen dem Westen, besonders den Amerikanern
und dem Osten, besonders den Chinesen, werden so immer größer. Und
dadurch wird Europa in der Mitte zerrieben, ins Abseits getrieben und vor
allem seiner Aufgabe nicht gerecht.
Ein vereinigtes Europa mit Russland und den Balkanländern könnte für
Entspannung zwischen den Polen in Ost und West sorgen und gleichzeitig
seine Wirtschaft und Kultur wieder zu einer beispielhaften Höhe bringen.
Welche Interessen oder Kräfte wollen genau diese mögliche europäische
Friedenskultur verhindern?
Wir sollten einmal überdenken, ob irgendeine Organisation oder ein Land der
Welt das Recht hat, als Weltpolizei aufzutreten?
Man stelle sich nur mal vor, Putin würde eine solche Organisation aufstellen
und damit in Mexiko an der Grenze zu den USA „aufräumen“, weil es dort
Bevölkerungsanteile gäbe, die einfach Englisch sprechen, anstatt Spanisch.
Er würde ihnen schließlich ihre Muttersprache Englisch verbieten.
Wie das wohl den USA gefallen würde?
Wie kommt es, dass die Russen vor Deutschland keine Angst haben, ja sogar
deren Kultur pflegen und den Zusammenschluss suchen, obwohl sie von
ihnen in den letzten beiden Weltkriegen angegriffen wurden und zig
Millionen Todesopfer beklagen mussten, während große Teile der deutschen
Bevölkerung glauben, die Russen seien aggressiv und würden sie angreifen
wollen?
Mit großer Wahrscheinlichkeit wird der eine oder andere Leser sagen, wir
seien „Putinversteher“ oder dergleichen- mit unüberhörbar abfälligem
Unterton.
Wir möchten fragen: Warum?
Wir versuchen zu beschreiben, was wir tatsächlich erlebt haben.
Die volle Wahrheit in diesen Zusammenhängen zu finden, ist schier
unmöglich.
Aber ist es nicht sinnvoll, sich Realitäten anzuschauen, zu beobachten,
Eindrücke zu sammeln, selber zu denken, anstatt sich „Meinungen“ zu
bilden?
Meinungen gründen wir auf Informationen, die wir durch Medien erhalten
haben, egal welcher Seite.
Die meisten Medien sind nicht frei, da sie „jemandem gehören“.
Seine Meinung darauf zu gründen bedeutet, hörig zu sein und letztlich die
Interessen des Besitzers zu verbreiten und zu vertreten.
Wir kennen die volle Wahrheit nicht. Wir suchen sie.
Meinungen sind gegenüber der Wahrheit Schall und Rauch.
Sie führen nur zu Konfrontation und dienen nicht der Wahrheit.
Sie führen uns in Verhärtungen, führen zu einem Ende des Denkens und
trennen uns voneinander.
Suchen wir aber die Wahrheit, auch wenn sie schmerzhaft ist oder wir sie
nicht finden, so bleiben wir offen allen Menschen gegenüber und innerlich
lebendig.
Entwicklung findet statt.
Deswegen beschreiben wir einfach, was wir erlebt haben.
Möge jeder es in sein Denken integrieren und weiter innerlich lebendig
bleiben, der möchte.
Wir erlebten es so, dass in Russland die Wahrheitssuche über der
Meinungsbildung steht, sie ist dort noch, wie für die deutschen Idealisten,
ein hohes Gut.
Man konnte den Eindruck gewinnen, manche von ihnen übernehmen
stellvertretend das, was die Deutschen nicht mehr leisten (können).
Diesen Friedensbrief erlauben wir ausdrücklich unverändert zu verbreiten. Er
darf gerne auch in andere Sprachen übersetzt werden.
Wir bitten euch eine Kopie an Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein. zu schicken.
Mit Herzensgrüßen,
Anneke Schammann
und
Uwe Burka

 

 

 

 

 

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