Die Wahl des neuen Europäischen Parlaments findet je nach Mitgliedstaat vom 6. bis 9. Juni statt. Die Parlamentarier werden nur sehr begrenzte Befugnisse haben: Sie stimmen über die von der Kommission ausgearbeiteten Gesetze ab. Seit seiner Gründung ist es nur der Transmissionsriemen der NATO in den europäischen Institutionen. Die Kommission stützt sich sowohl auf den Rat der Staats- und Regierungschefs als auch auf die europäischen Arbeitgeber (BusinessEurope). Die Parlamentarier haben auch eine Resolutions-Befugnis, mit der sie ihre Meinung mit einfacher Mehrheit äußern, ohne dass jemand sie liest oder weiterverfolgt. Da die gegenwärtige Mehrheit atlantisch eingestellt ist, übernehmen all diese Meinungen das Wortgeklingel der NATO-Propaganda auf.

Diese Wahlen haben in den verschiedenen Mitgliedstaaten traditionsgemäß die Funktion eines Blitzableiters. Die Exekutive fürchtet sie daher und fördert eine Vermehrung alternativer Listen in den Gebieten ihrer Konkurrenten. In Frankreich, wo die Gesetzgebung zur Wahlkampffinanzierung sehr restriktiv ist, kommt das Geld, das die Vereinigten Staaten und der Élysée-Palast in diese Kampagnen stecken, hauptsächlich von ausländischen Staaten (in der Regel afrikanischen) und den Druckereien der Kandidaten. Diese Strategie hat zu einer beeindruckenden Vervielfachung der Listen geführt: bereits 21 in Frankreich und 35 in Deutschland!

Obwohl die Wahlen immer listenbasiert sind, hat jeder Mitgliedstaat sein eigenes Wahlsystem. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um Sperrlisten wie in Deutschland und Frankreich. In einigen anderen übertragbaren Listen: Jede zu besetzende Position wird einzeln gewählt (was die Rolle der Parteien bei gleichzeitiger Beibehaltung der Proportionalwahl verringert), wie in Irland und Malta. In anderen Fällen können die Wähler die Reihenfolge der von ihnen gewählten Kandidaten ändern, z. B. in Schweden und Belgien. Oder, wie in Luxemburg, können sie Kandidaten aus verschiedenen Listen auswählen. Jede dieser Abstimmungsmethoden hat ihre Vor- und Nachteile, aber ergibt nicht dasselbe.

Die EU-Verträge hatten europäische Parteien vorgesehen, aber bis heute gibt es sie nicht; ein Zeichen dafür, dass es kein europäisches Volk gibt.

Nationale Parteien sind daher eingeladen, sich in europäischen Parteienbündnissen zusammenzuschließen, die ihren Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission nominieren können. Der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs muss ihn fortan aus ihrer Mitte wählen. Diese indirekte Wahlmethode wurde 2014 eingeführt. In der Praxis wurde die größte Koalition im Voraus identifiziert. Jean-Claude Juncker und dann Ursula von der Leyen wurden daher ernannt, bevor ihre Koalition eine relative Mehrheit erhielt.

Sollte Mario Draghi sich an der Spitze der Kommission durchsetzen, müsste also die Koalition, die als Sieger hervorging, im letzten Moment ihre Haltung ändern. Sie hätte erneut Ursula von der Leyen nominiert, aber nachdem sie vom Draghi-Bericht über die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen erfahren hatte, würde sie sich für ihn entscheiden. Diese Manipulation würde es ermöglichen, die Diskussionsthemen abrupt zu wechseln: Während der Wahlen ist von der Bilanz der von der Leyen-Regierung die Rede, dann plötzlich aber von der Föderalisierung der Europäischen Union zu Lasten der Mitgliedstaaten. Dies ist ein Thema, von dem die Wähler nichts verstehen. Sie denken vielleicht, dass "in der Zahl Stärke liegt", aber nicht, was das Verschwinden der einzelnen Mitgliedstaaten für sie bedeuten würde. Die Union ist schon in keiner Weise eine demokratische Organisation, und der europäische Staat wäre es noch weniger. Auch wenn Mario Draghi nicht kandidieren kann, lautet die zentrale und doch verborgene Frage: "Sollen die Bevölkerungen der Europäischen Union einen einzigen Staat bilden oder nicht, obwohl sie bis heute kein gemeinsames Volk bilden?" Mit anderen Worten, werden sie akzeptieren, dass ihnen Entscheidungen von einer Mehrheit von "Regionen" (wir sollten nicht mehr von Mitgliedstaaten sprechen) auferlegt werden, denen sie nicht angehören?

Dieses Problem war bereits 1939 von Reichskanzler Adolf Hitler explizit angesprochen worden. Er beabsichtigte, ein Großdeutschland zu bilden, das sich aus allen deutschsprachigen Völkern zusammensetzte, im Zentrum einer Konstellation kleiner europäischer Staaten, die jeweils um eine ethnische Gruppe herum gegründet gewesen wären. Nach dem Fall des Reiches 1946 forderte der britische Premierminister Winston Churchill die Bildung der Vereinigten Staaten von Europa, an denen sein Land nicht teilnehmen sollte [1]. Für das "Imperium, über dem die Sonne nie untergeht" ging es darum, mit einem einzigen Gesprächspartner umgehen zu können, der nicht mit ihm hätte konkurrieren können. Auch dieses Projekt wurde nicht realisiert, diesmal zugunsten eines "gemeinsamen Marktes". Zu ihm kehren wir jetzt zurück.

In wirtschaftlicher Hinsicht bewegt sich die Union in Richtung einer Spezialisierung der Arbeit: Deutschland ist beispielsweise für Autos, Frankreich für Luxusgüter und Polen für landwirtschaftliche Produkte zuständig. Aber was werden die deutschen und französischen Bauern denken, die geopfert werden, oder die polnischen Autohersteller, die ebenfalls geopfert werden?

In der Außen- und Verteidigungspolitik befindet sich die Union bereits auf einer atlantischen Linie. Das heißt, sie verteidigt die gleichen Positionen wie Washington und London. Aber diese Linie würde allen aufgezwungen werden, auch den Ungarn, die sich weigern, antirussisch zu werden, oder den Spaniern, die sich weigern, die israelischen Völkermörder zu unterstützen. Gemäß den Verträgen ist die NATO für die Verteidigung der Union zuständig. US-Präsident Donald Trump forderte, dass diese Verteidigung die Vereinigten Staaten nichts kosten sollte und die Europäer daher ihre Militärbudgets auf 2% ihres BIP erhöhen müssten. Bisher haben dies nur acht der 27 Staaten getan. Wenn die EU nun zu einem einzigen Staat würde, wäre Washingtons Wunsch für alle eine Verpflichtung. Für einige Staaten, wie Italien, Spanien oder Luxemburg, würde dies eine plötzliche Belastung ihrer Sozialprogramme bedeuten. Es ist unwahrscheinlich, dass die betroffenen Bevölkerungsgruppen dies schätzen würden.

Hinzu kommt noch der besondere Fall Frankreichs, das einen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und die Atombombe besitzt. Es sollte diese Trümpfe in den Dienst des einheitlichen Staates stellen, auf die Gefahr hin, dass die Mehrheit des Europäischen Rates sie gegen die französische Meinung einsetzt. Auch hier werden die betroffenen Bevölkerungen, in diesem Fall die Franzosen, dies nicht akzeptieren.

Darüber hinaus wäre der „Europa-Staat“ (ohne Verbindung zum europäischen Kontinent, der ja viel größer ist) daher ein Imperium, obwohl ein Teil seines Territoriums (Nordzypern) seit 1974 von der Türkei besetzt ist, er dies aber toleriert.

Keines dieser Probleme ist neu. Ihretwegen haben einige Politiker, darunter General Charles De Gaulle, den "gemeinsamen Markt" akzeptiert und ein "föderales Europa" abgelehnt. Diese Probleme stehen jetzt wieder im Mittelpunkt der Sorgen der atlantischen europäischen Führer, aber nicht ihrer Völker. Deshalb werden sie alles tun, um diese Probleme bei den kommenden Wahlen zu verbergen. Das ist das zentrale Thema, aber es ist jenes, das nervt.

Zu diesen politischen Problemen kommt noch ein organisatorisches. Das Industriezeitalter ist dem der Informatik und der künstlichen Intelligenz gewichen. Die vertikalen Organisationen des frühen 20. Jahrhunderts, sei es in der Wirtschaft oder in der Politik, sind anderen, horizontalen, vernetzten Organisationen gewichen. Das vertikale Modell des Europa-Staates ist also überholt, bevor es selbst das Licht der Welt erblickt hat. Darüber hinaus haben alle, die diese riesige Verwaltungsmaschinerie kennen, bereits ihre Leere erkannt, die letztendlich nur dazu führt, das Wachstum, das sie stimulieren sollte, zu bremsen. Die EU liegt jetzt schon weit hinter China, Russland und den Vereinigten Staaten. Das föderale Projekt wird es ihr nicht nur nicht erlauben, wieder auf die Beine zu kommen, sondern sie hinter die aufstrebenden Mächte zurückfallen lassen.

Man könnte denken, dass die Befürworter des Europa-Staates ein Interesse daran haben, eine breite Beteiligung zu fördern, um ihr Projekt zu legitimieren. Dies ist jedoch nicht der Fall, da das föderale Projekt während dieser Kampagne nicht erwähnt wird; dass man es für die Zukunft mit Mario Draghi reserviert. Also tun sie alles in ihrer Macht Stehende, um zu betonen, dass die Institution Wahlen praktiziert (was ausreichen würde, um sie demokratisch zu machen) und sicherzustellen, dass sich so wenig Menschen wie möglich beteiligen. Die Wahlbeteiligung in der gesamten EU erreicht möglicherweise nicht die Hälfte der Wählerschaft.

 
 
Übersetzung
Horst Frohlich
Korrekturlesen : Werner Leuthäusser
 wiederholung...

Interview von Thierry Meyssan durch Monika Berchvok

von Thierry Meyssan

Thierry Meyssan, der jedem der ihn darum bittet Interviews gibt, ohne Diskriminierung, erklärte Monika Berchvok seine Analyse der Konfrontation in Gaza.

VOLTAIRE NETZWERK | PARIS (FRANKREICH) | 9. JANUAR 2024
 
 

Monika Berchvok: Für Sie ist die These von einem Überraschungsangriff am 7. Oktober kaum zu glauben. Was sind also die Ungereimtheiten, die Sie an ein 9/11-Szenario denken lassen?

Thierry Meyssan: Die Koalitionsregierung von Benjamin Netanjahu war, wie die New York Times berichtete, ein Jahr zuvor durch einen Bericht des Militärgeheimdienstes alarmiert worden. Er hat nicht reagiert. Als ihn sein Verteidigungsminister in diesem Sommer im Ministerrat zur Ordnung rief, entließ er ihn, wie Haaretz enthüllte. Unter dem Druck seiner Partei nahm er ihn jedoch bald darauf wieder auf. Darauf stapelten sich Berichte auf seinem Schreibtisch. Unter diesen befindet sich einer der Geheimdienste, den er seinem Verfasser als nicht sehr glaubwürdig zurückschickte und der ihm dann noch zwei andere Male mit Einführungen von verschiedenen Offizieren zurückgeschickt wurde. Oder dann noch zwei CIA-Berichte. Und ein weiterer Schritt von einem seiner persönlichen Freunde, dem Direktor des Memri. Und als ob das noch nicht genug wäre, ein Anruf des ägyptischen Geheimdienstministers. Der Premierminister hat nicht nur nichts unternommen, sondern auch gehandelt, um diesen Angriff zu erleichtern: Er hat die Initiative ergriffen, um die Grenzsoldaten zu demobilisieren, damit niemand eingreifen konnte, als der Angriff begann. Beachten Sie, dass ich die Ereignisse genauso sehe wie Papst Franziskus: In seiner Weihnachtsbotschaft bezeichnete der Heilige Vater den Krieg in Gaza zweimal als "Wahnsinn ohne Entschuldigung". Doch kurz darauf bezog er sich auf den "abscheulichen Angriff vom 7. Oktober", was bedeutete, dass er nicht glaubte, dass der israelische Krieg eine Antwort auf diesen Angriff war. Er forderte ein Ende der Kämpfe und eine Lösung der Palästinenserfrage.

 

MB: Es gäbe also eine so große Spaltung innerhalb der israelischen Regierung? Was ist das Ziel des Netanjahu-Clans?

TM: In den Monaten vor dem Angriff auf den palästinensischen Widerstand war Israel Schauplatz eines Staatsstreichs. Dieses Land hat keine Verfassung, aber es hat grundlegende Gesetze. Sie regeln das Gleichgewicht der Kräfte, indem sie der Justiz die Fähigkeit anvertrauen, Rivalitäten zwischen der Regierung und der Knesset zu neutralisieren. Unter dem Impuls des Law and Liberty Forums, das von dem amerikanisch-israelischen „Straussianer“ Elliott Abrams finanziert wird, hat der Rechtsausschuss der Knesset unter dem Vorsitz von Simtcha Rothman, der auch Präsident des Law and Liberty Forum ist, die israelischen Institutionen zerlegt. Im Laufe des Sommers vervielfachten sich die Riesendemonstrationen. Aber nichts half. Das Netanjahu-Team hat die Regeln für die Verabschiedung von Gesetzen geändert, die "Angemessenheitsklausel" in gerichtlichen Entscheidungen abgeschafft, die Ernennungsmacht des Premierministers gestärkt und die Rolle der Rechtsberater des Ministeriums geschwächt. Kurz gesagt, das Grundgesetz über Menschenwürde und Freiheit ist zu einer bloßen Vorschrift geworden. Rassismus ist zu einer Meinung geworden, wie jede andere. Und die Ultraorthodoxen konnten ihre Taschen mit verschiedenen Subventionen und Privilegien vollstopfen. Israel ist heute ganz und gar nicht mehr dasselbe Land wie vor sechs Monaten.

MB: Die israelische Zivilgesellschaft ist gespalten und scheint am Ende ihrer Kräfte zu sein. Glauben Sie, dass das zionistische Modell tot ist?

TM: Der Zionismus ist eine Ideologie aus einem anderen Jahrhundert. Er ist ein jüdischer Nationalismus im Dienste des britischen Empires. Jahrhundertelang haben die Juden sich dagegen gewehrt, bevor Theodor Hertzl sie zum Ideal mancher von ihnen machte.

MB: Die Situation in Gaza verwandelt sich mehr und mehr in ethnische Säuberungen. Ist die IDF fähig, die volle Kontrolle über dieses Territorium zu übernehmen und es von seiner Bevölkerung zu entleeren?

TM: Die Idee der ethnischen Säuberung ist nicht neu. Sie wurzelt in den Positionen des Ukrainers Vladimir Jabotinsky, die Menachem Begin, Yitzhak Shamir und die Familie Netanjahu in Israel für sich beanspruchten, ebenso wie Leo Strauss und Elliott Abrams in den Vereinigten Staaten. Diese Gruppe, jüdischer Suprematisten, behauptet, Palästina sei "ein Land ohne Volk, für ein Volk ohne Land". Unter diesen Bedingungen gibt es also keine einheimischen Palästinenser. Sie müssen gehen oder abgeschlachtet werden. Meines Wissens nach, ist sie heute die einzige Gruppe der Welt, die öffentlich Völkermord befürwortet.

MB: Auf palästinensischer Seite scheint die Hamas auch in zwei antagonistische Tendenzen gespalten zu sein?

TM: Die Hamas ist der palästinensische Ableger der Muslimbruderschaft. Ihr Name ist ein Akronym für "Islamic Resistance Movement", was dem arabischen Wort für "Eifer" entspricht. Ihre Ideologie hat nichts mit der Befreiung Palästinas zu tun, sondern mit der Errichtung eines Kalifats. Ihr Slogan lautet: "Gott ist ihr Ziel, der Prophet ist ihr Vorbild, der Koran ist ihre Verfassung: Der Dschihad ist ihr Weg und der Tod um Gottes willen ist ihr höchster Wunsch." Seit ihrer Gründung hatte sie die volle Unterstützung der Familie Natanjahu, die in ihr eine Alternative zu Jassir Arafats säkularer Fatah sah. Der Prinz von Wales und derzeitige Charles III. war einer der Beschützer der Bruderschaft. Barack Obama hat einen Verbindungsoffizier der Muslimbruderschaft im Nationalen Sicherheitsrat der USA eingesetzt. Im Juni 2013 wurde sogar ein Führer der Muslimbruderschaft im Weißen Haus empfangen.

Angesichts des Scheiterns der Muslimbruderschaft während des sogenannten "Arabischen Frühlings" hat sich jedoch eine Fraktion der Hamas von der Bruderschaft distanziert. Es gibt also nicht mehr nur eine Hamas, sondern zwei. Die historische Hamas wird von Mahmoud Al-Zahar regiert, dem Führer der Muslimbruderschaft in Gaza. Ihm unterstehen der Milliardär Khaled Meshaal in Katar und Yahya Sinwar in Gaza. Im Gegenteil, der Zweig der Hamas, der sich dem palästinensischen Widerstand angeschlossen hat, wird von Khalil Hayya geleitet.

Über diese Spaltung der Hamas berichten die westlichen Medien nicht, sondern nur einige arabische Medien. Präsident Baschar al-Assad versöhnte sich im Oktober 2022 mit Khalil Hayya, als dieser sich weigerte, Khaled Meshaal zu empfangen. In seinen und auch meinen Augen hat der Premierminister von Gaza, Ismail Haniyyeh, 2012 den Angriff auf Jarmuk, die palästinensische Flüchtlingsstadt in Syrien organisiert. Damals drangen Hamas- und Al-Kaida-Kämpfer in die Stadt ein, um die "Feinde Gottes" zu eliminieren. Sie wurden von israelischen Mossad-Offizieren betreut und machten sich auf den Weg zu den Häusern von PFLP-Kadern, die sie ermordet haben. Unter ihnen war auch ein Freund von mir. Vor einigen Tagen hielt Präsident Baschar al-Assad eine Rede gegen die historische Hamas und für denjenigen, der sich dem palästinensischen Widerstand angeschlossen hat.

MB: Was bedeutet der authentische palästinensische Widerstand für Sie?

TM: Der palästinensische Widerstand hat nichts mit dem Obskurantismus der Muslimbruderschaft zu tun, auch nicht mit dem Opportunismus der Milliardäre der Hamas. Er ist eine nationale Befreiungsbewegung vom Kolonialismus der jüdischen Suprematisten.

MB: Können Sie uns noch etwas über die Geschichte der Muslimbruderschaft sagen? Versucht dieser Geheimbund nach seinen Niederlagen in Syrien und Ägypten wieder ins Spiel zu kommen?

TM: Die Bruderschaft wurde 1928 von Hassan el-Banna in Ägypten gegründet. Einen Teil meines letzten Buches habe ich seiner internationalen Geschichte gewidmet. Ich war jedoch nicht in der Lage, die Unterstützung zu klären, die sie in ihren Anfängen erhielt. Dennoch wurde sie nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Werkzeug im Dienste des britischen MI6 und bald auch der amerikanischen CIA. Sie hat einen "Geheimapparat" aufgebaut, der sich auf politische Morde in Ägypten spezialisiert hat. Ein ägyptischer Freimaurer, Sayyed Qutb, wurde ihr Theoretiker für den Dschihad. Die Organisation der Bruderschaft wurde von der Vereinigten Großloge von England übernommen. Die Bruderschaft expandierte nach Pakistan mit Al-Bannas Schwiegersohn Saeed Ramadan, dem Vater von Tariq Ramadan, und dem Philosophen Sayyid Abul Ala Maududi. Anschließend ging Ramadan nach München, um bei Radio Free Europe für die CIA zu arbeiten, an der Seite des Ukrainers Stepan Bandera, einem großen Juden-Vernichter. Die Muslimbruderschaft begann ihre militärischen Aktionen während des Krieges in Nordjemen in den 1960er Jahren, gegen die arabischen Nationalisten von Gamal Abdel Nasser. Aber erst mit Zbigniew Brzezinski wurde sie zu einem unverzichtbaren Akteur in der US-Strategie in Afghanistan. Letzterer brachte die Bruderschaftsdiktatur von General Zia-ul-Haq in Pakistan an die Macht und hetzte die Kämpfer der saudischen Milliardärsbruderschaft Osama bin Laden in Afghanistan gegen die Sowjets. In dieser Zeit nutzte Saudi-Arabien die Muslimische Weltliga, um die Muslimbruderschaft mit einem größeren Budget als seine eigene nationale Armee auszustatten.

Die Bruderschaft hat vergeblich versucht, in mehreren Staaten die Macht zu übernehmen, insbesondere in Syrien mit der Operation Hama. Sie hat sich in den Bosnien-Herzegowina-Krieg eingemischt, wo sie die Arabische Legion gründete. Osama bin Laden wurde Militärberater von Präsident Alija Izetbegovic, dessen amerikanischer „Straussianer“ Richard Perle sein diplomatischer Berater und der Franzose Bernard-Henri Lévy sein Kommunikationsberater wurden.

Aber das große Werk der Bruderschaft kam erst mit Al-Kaida und Daesch. Diese dschihadistischen Organisationen, die in jeder Hinsicht mit der historischen Hamas vergleichbar sind, wurden von der CIA und dem Pentagon vor allem in Algerien, Irak, Libyen, Syrien, Ägypten und Tunesien eingesetzt, um die Widerstandsfähigkeit der arabischen Länder zu zerstören. Frankreich, das während des Kalten Krieges ihren Führern Asyl gewährt hatte, bekämpfte sie mit dem Bündnis zwischen François Mitterrand und Charles Pasqua. Frankreich hat erkannt, dass die Bewaffnete Islamische Gruppe (GIA) nur ein britisches Manöver war, um es von dem Maghreb auszuschließen. Heute jedoch versteht niemand, dass die Bruderschaft nur ein Werkzeug ist, um die Massen zu manipulieren. Unsere Staats- und Regierungschefs, von Emmanuel Macron bis Jean-Luc Mélenchon, lassen sich von ihrer Rhetorik, die sie im wörtlichen Sinn hinnehmen, täuschen. Sie behandeln sie wie eine religiöse Organisation, was sie überhaupt nicht ist.

MB: Katar spielt eine mehr als undurchsichtige Rolle. Was ist sein Platz in der Verschwörung?

TM: Am Anfang hat sich Katar als neutrale Macht positioniert und seine guten Dienste zur Verfügung gestellt. Aber viele haben sich Sorgen gemacht, weil Katar den politischen Flügel der Hamas beherbergt, weil manche persönliche Freunde des Emirs sind und weil Katar Hamas-Beamte in Gaza bezahlt. Katar entgegnete, dass es all dies nur auf Ersuchen der Vereinigten Staaten tue, wie Katar es auch für die Taliban getan hatte. Nachdem Abdel Fattah al-Sisi, auf Anstoß der 40 Millionen ägyptischen demonstrierenden Bürger, die Diktatur von Mohammed Mursi gestürzt hatte, informierte er tatsächlich Saudi-Arabien, dass die Muslimbruderschaft einen Putsch gegen König Salman vorbereite. Plötzlich wurde die Bruderschaft, die jahrelang verwöhnt worden war, zum Feind des Königreichs. Katar übernahm daraufhin öffentlich seine Rolle als Pate des Islamismus, während Kronprinz MBS versuchte, sein Land zu öffnen. Als Donald Trump 2017 seine Anti-Terror-Rede in Riad hielt, warnte Saudi-Arabien Katar, die Beziehungen zur Muslimbruderschaft und ihren Milizen al-Kaida und Daesch sofort einzustellen. Das wurde zur Golfkrise. In den letzten Tagen sind die Dinge aber klarer geworden: Emir Al-Thani hat einen seiner Minister, Frau Lolwah Al-Khater, nach Tel Aviv geschickt. Sie nahm am israelischen Kriegsrat teil, um die Schwierigkeiten im Abkommen über die Freilassung der Geiseln auszubügeln. Aber sie verstand nicht, dass dem Kriegskabinett Gegner der Diktatur von Benjamin Netanjahu angehörten, darunter General Benny Gantz. Sie hat sich als das erwiesen, was sie wirklich ist: keine neutrale Verhandlungsführerin, sondern eine Autorität, die fähig ist, Entscheidungen im Namen der Hamas zu treffen. Aus diesem Grund sagte am Ende des Treffens Joshua Zarka, stellvertretender Generaldirektor für strategische Angelegenheiten im Außenministerium, dass Israel "mit Katar abrechnen wird", sobald es seine Rolle als Vermittler erfüllt hat. Die Opposition von Netanjahu innerhalb des Kriegskabinetts begann zu hinterfragen, ob all dies, der Putsch im Sommer und der Anschlag vom 7. Oktober, nicht eine Inszenierung der Biden-Regierung war.

MB: Die USA säßen also auf dem Fahrersitz. Was wäre Bidens Strategie in der Region?

TM: Joe Biden verfügt nicht über alle seine Fähigkeiten. In den USA gibt es sogar eine wöchentliche Fernsehsendung über seine gesundheitlichen Probleme und geistigen Abwesenheiten. In seinem Schatten hat eine kleine Gruppe die Strategie von George W. Bush und Barack Obama wiederbelebt: alle politischen Strukturen im "Erweiterten Nahen Osten", außer denen Israels, zu zerstören. Das ist es, was in Libyen, im Sudan, im Gazastreifen geschieht und was im Jemen fortgesetzt wird. Die Biden-Regierung versichert, sie wolle das Massaker in Gaza beenden, setzt aber ihre Lieferungen von Granaten und Bomben fort, damit die Zerstörung weitergeführt wird. Sie behauptet, die Bewegungsfreiheit im Roten Meer aufrechterhalten zu wollen, bildet aber eine internationale Koalition gegen Ansar Allah, die sie fälschlicherweise als antisemitisch und als die "Huthis" (d.h. die "al-Huthi-Bande") bezeichnet. Washington hat gerade die Unterzeichnung des Friedensvertrags im Jemen unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen abgesagt. Es lässt einen Krieg wieder aufleben, der bereits beendet war.

MB: Wie sieht Trumps Bilanz angesichts dieses Chaos in der Geopolitik des Nahen Ostens aus? Könnte seine Rückkehr zu einem anderen Ausweg aus diesem Konflikt führen?

TM: Donald Trump ist ein politisches UFO. Er beruft sich auf den ehemaligen US-Präsidenten Andrew Jackson (1829-1837) und hat keine Beziehung zu republikanischen und demokratischen Ideologien. Seine erste Entscheidung, als er ins Weiße Haus einzog, war, dem CIA-Direktor seinen Sitz im Nationalen Sicherheitsrat zu entziehen. Dies führte zu ersten Schwierigkeiten und dem erzwungenen Rücktritt von General Mike Flynn. Donald Trump wollte internationale Probleme durch Handel, nicht durch Waffen lösen. Man mag es für einen illusorischen Weg halten, aber er ist der einzige US-Präsident, der noch nie einen Krieg begonnen hat. Er stoppte abrupt Washingtons Einsatz terroristischer Stellvertreter, darunter al-Kaida und Daesch. Er hat die Rolle der NATO in Frage gestellt; ein Militärbündnis, das nach den Worten seines ersten Generalsekretärs auf das folgende abzielt: "keep the Americans in, the Russians out und the Germans down! [die Amerikaner drinnen, die Russen draußen und die Deutschen unter Vormundschaft zu halten!]. Wenn er an der Macht wäre, würde er der Mehrheit der israelischen Bürger helfen, die "revisionistischen Zionisten", d.h. die Gruppe von Benjamin Netanjahu, loszuwerden; er würde die Umsetzung der Abraham-Abkommen fortsetzen und die westliche Unterstützung der Muslimbruderschaft beenden; er würde der Mehrheit der Ukrainer helfen, Wolodymyr Selenskyj loszuwerden und Frieden mit Russland zu schließen. Etc. Donald Trump ist jedoch noch nicht gewählt worden und das derzeitige Team an der Macht, versucht ihn zu zwingen, sein Programm aufzugeben, um Zugang zum Weißen Haus zu erhalten.

MB: Ist nun der durch die US-zionistische Achse verkörperte Westen auf lange Sicht dem Untergang geweiht?

TM: Sie bezeichnen die Gruppe, die derzeit den politischen Westen regiert, als "amerikanisch-zionistisch". Das ist eine Art, die Sache zu sehen. Ich glaube jedoch nicht, dass sie an einen Staat gebunden ist. Wie es der Zufall will, sind diese Leute in den Vereinigten Staaten und Israel an der Macht, aber sie könnten auch anderswo an der Macht sein. Sie halten sich für jüdische Nationalisten, aber sind keine Nationalisten. Diese Leute sind weiße Suprematisten. Sie lehnen die Gleichheit der Menschen ab und halten es für unbedeutend, Massen von Menschen zu massakrieren. Für sie gilt: "Man kann kein Omelett machen, ohne Eier zu zerschlagen." Es war diese Denkweise, die den Zweiten Weltkrieg und seine gigantischen Massaker an Zivilisten provozierte. Heute erkennen viele Staats- und Regierungschefs der Welt, dass sie sich nicht von den Nazis unterscheiden und die gleichen Schrecken bringen. Die Dritte Welt ist heute jedoch gebildet und Mitglied der Vereinten Nationen. Sie kann die Macht dieser Menschen nicht länger ertragen. Russland strebt die Wiederherstellung des Völkerrechts an, das Zar Nikolaus II. 1899 auf der Haager Konferenz mit dem französischen Nobelpreisträger Léon Bourgeois geschaffen hatte. China strebt nach Gerechtigkeit und wird "ungleiche Verträge" nicht länger tolerieren.

Ich habe den Eindruck, dass dieses Regierungssystem bereits tot ist. Bei den Vereinten Nationen wurde die jährliche Resolution, die ein Ende der Blockade Kubas fordert, von 197 gegen 2 Staaten (den Vereinigten Staaten und Israel) angenommen. Die Resolution für einen sofortigen und dauerhaften Waffenstillstand in Gaza wurde von 153 Staaten angenommen, das ist zwar etwas weniger, aber es steht viel mehr auf dem Spiel. Wie dem auch sei, wir sehen, dass es gegen die Politik dieser Leute eine Mehrheit gibt. Wenn der Damm brechen wird, und wir stehen kurz davor, wird der politische Westen zusammenbrechen. Wir müssen unbedingt dieses Floß verlassen, bevor es untergeht.

Übersetzung
Horst Frohlich
 
Bhadrakumar: Putin stellt den Kompass für die kommende Reise neu ein
Von M. K. Bhadrakumar 15.05.2024 - übernommen von indianpunchline.com
18. Mai 2024


Russisches Außenministerium, Smolensky-Platz, Moskau

Aus historischem Anlass hat Präsident Wladimir Putin bei der Eröffnungszeremonie am 7. Mai im Andreassaal des Großen Kremlpalastes in Moskau eine bemerkenswert kurze Rede gehalten, denn Russland befindet sich in einer turbulenten Phase der Gestaltung seines Schicksals.

Es gab so viel zu sagen angesichts der Bedeutung des Abschlusses von Putins zwei Jahrzehnten an der Macht und des Beginns einer neuen sechsjährigen Amtszeit im Kreml bis 2030. Es war eine wahrhaft außergewöhnliche politische Karriere eines Mannes der Geschichte, der sowohl die Wiedergeburt und Renaissance seines Landes als auch die Rückkehr Russlands in den Mittelpunkt der Weltpolitik choreografiert hat. In der Tat ist die Erwartung groß, dass Putins sechsjährige Amtszeit mit der Gestaltung der Weltordnung des 21. Jahrhunderts zusammenfällt.

Putin hatte dem russischen Volk eine einzige tiefgreifende Botschaft zu übermitteln, nämlich die Bedeutung der nationalen Einheit für die jüngste Vergangenheit und die Zukunft   – ohne Einheit ist alles verloren, während mit Einheit alles möglich ist.

Putins Charakterisierung der Gegenwart als „diese schwierige Schlüsselperiode“ in der Geschichte Russlands lässt aufhorchen. Offensichtlich hegt er keine unrealistischen Hoffnungen auf ein baldiges Ende des Krieges in der Ukraine. In der Tat ist der Westen keineswegs zum Frieden bereit. Das hat die ehemalige Unterstaatssekretärin Victoria Nuland in einem Interview mit Politico am vergangenen Wochenende öffentlich und unverblümt zugegeben.

Putin hat zwei wichtige Ernennungen in seiner neuen Regierung vorgenommen   – die Ernennung von Michail Mischustin, der als brillanter Technokrat die russische Wirtschaft unter den Bedingungen von Sanktionen und Krieg gelenkt hat, für eine weitere Amtszeit als Premierminister und zweitens die Ersetzung von Verteidigungsminister Sergej Schoigu durch den Ersten Stellvertretenden Premierminister Andrej Belousow. Beides sind Signale für die zu erwartenden professionellen Anforderungen angesichts der entscheidenden Bedeutung der Verwaltung der Wirtschaft, die ein langwieriger Krieg unweigerlich mit sich bringen würde.

Putin hat sich für seine bevorstehende Amtszeit ein äußerst ehrgeiziges soziales und wirtschaftliches Programm vorgenommen, für dessen Erfolg öffentliche Investitionen in großem Umfang erforderlich sind. Putin hat sich auch zum Ziel gesetzt, Russland zur viertgrößten Volkswirtschaft der Welt hinter den USA, China, Japan und Indien zu machen   – eine beachtliche Leistung.

Andererseits ist der russische Verteidigungshaushalt in den zwei Jahren des Ukraine-Kriegs auf 6,7 % des BIP angewachsen und hat damit fast das Niveau der Sowjetzeit erreicht. An dieser Stelle kommt Belousov ins Spiel. Er ist ein erfahrener Wirtschaftswissenschaftler, der über ein Jahrzehnt lang als Putins vertrauter Wirtschaftsberater fungiert hat. Belousov ist ein keynesianischer Statist und ein seltener Befürworter staatlicher Kontrolle in der „postsowjetischen“ Wirtschaft mit einer sauberen Bilanz im öffentlichen Leben, der nun für die Feinabstimmung des militärisch-industriellen Komplexes Russlands eingesetzt wird.

Der Wechsel an der Spitze des Verteidigungssektors ist besonders interessant, weil er zu einem günstigen Zeitpunkt erfolgt. Die russischen Truppen haben in den letzten Monaten schrittweise Fortschritte in der Ostukraine gemacht und am vergangenen Wochenende eine neue Offensive in der nordöstlichen Region Charkow gestartet.

Nach westlicher Lesart steht Moskau kurz davor, eine große Militäroffensive in der Ukraine anzuordnen, um die ukrainische Armee zu zerschlagen. Putin spürt jedoch eindeutig die Notwendigkeit der Anpassung und Entwicklung, während die russischen Streitkräfte versuchen, so viele Gebietsgewinne wie möglich zu erzielen, bevor das neue 61 Milliarden Dollar schwere US-Hilfspaket anläuft.

Der Pressesprecher des Kremls, Dmitri Peskow, erklärte, dass die Ernennung eines zivilen Verteidigungsministers auf die Notwendigkeit von „Innovation“ zurückzuführen sei. Tass zitierte Peskow mit den Worten: „Auf dem Schlachtfeld gewinnt heute derjenige, der offener für Innovationen ist ... Deshalb hat der Präsident in dieser Phase die Entscheidung getroffen, einen Zivilisten an die Spitze des Verteidigungsministeriums zu stellen.“

Peskows Bemerkung ist ein deutliches Zeichen dafür, dass Putin sich auf einen langen Zeitraum vorbereitet. Sechs Jahre sind eine lange Zeit, und es ist sehr wahrscheinlich, dass der Stellvertreterkrieg mit den USA weit über die Ukraine oder Europa hinaus eskalieren wird.

Die komplexe Situation, in der sich die russische Präsenz auf dem US-Luftwaffenstützpunkt in Niamey, Niger, heute befindet, spiegelt also die geopolitischen Probleme wider, die sich in Afrika entwickeln. Allein in der vergangenen Woche hatte Russland intensive Kontakte auf hoher Ebene mit westafrikanischen Ländern an der Atlantikküste.

Es scheint, dass die eigentliche militärische Strategieplanung von General Waleri Gerassimow, dem Chef des Generalstabs, unter strenger Aufsicht von Putin selbst durchgeführt werden soll. Eine ehemalige Beraterin der russischen Zentralbank, Alexandra Prokopenko, schrieb auf X: „Putins Priorität ist der Krieg; ein Zermürbungskrieg wird durch die Wirtschaft gewonnen.“ Im Klartext: Putin will den Krieg gewinnen, indem er die Ukraine in einem langwierigen Wettrüsten im industriellen Maßstab zermürbt.

Der Besuch des US-Außenministers Antony Blinken am Dienstag in Kiew ist ein symbolträchtiger Vertrauensbeweis für Präsident Wladimir Zelenski, dessen Amtszeit am 20. Mai endet, was natürlich die Legitimität seines Regimes in Frage stellt. Blinkens Besuch ist eine direkte Reaktion auf die neue Offensive der russischen Streitkräfte in der sensiblen Region Charkow, die am vergangenen Freitag begann und bei der die ukrainischen Verteidigungslinien Risse bekommen haben.

Bloomberg berichtete gestern, dass die US-Regierung daran arbeitet, der Ukraine eine zusätzliche Patriot-Luftabwehrbatterie sowie Radare zu liefern, um das Land bei der Abwehr russischer Luftangriffe zu unterstützen. Blinken erklärte, das geplante Hilfspaket im Wert von 61 Milliarden Dollar werde auf dem Schlachtfeld „einen echten Unterschied machen“. Er betonte, dass „die Ukraine auf ihre Partner zählen kann, wenn es um nachhaltige, langfristige Unterstützung geht“.

Mit seinem Überraschungsbesuch in Kiew will Blinken Moskau verdeutlichen, dass jede Annahme, die USA würden die Ukraine früher oder später im Stich lassen, insbesondere wenn Donald Trump bei den diesjährigen Präsidentschaftswahlen ins Weiße Haus einzieht, einen schweren Fehler darstellt.

Das aggressive Narrativ, das in Washington propagiert wird, lautet so: „Unabhängig von den Ergebnissen im November wird ein Versäumnis des Kongresses, auf dem jüngsten Hilfspaket in Worten und Taten aufzubauen, die Führungsrolle und Glaubwürdigkeit der USA in der Welt untergraben und unsere Feinde ermutigen", so Liana Fix, Expertin für russische und europäische Außen- und Sicherheitspolitik beim Council on Foreign Relations in New York.

In diesem Szenario wird Russland versuchen, die Beziehungen zu China, Iran usw. zu festigen. Russland sieht, dass das Zusammenspiel der Kräfte zu seinen Gunsten wirkt. Die russische Weltsicht steht im Einklang mit der des globalen Südens. Der indische Außenminister S. Jaishankar sagte gestern auf einem öffentlichen Forum in Neu-Delhi: „Kein Land ist heute dominant genug... Wir befinden uns in einer Übergangszeit, in der der alten Ordnung das Gas ausgeht, aber die neue Ordnung noch nicht da ist.“ Jaishankar wies auch darauf hin, dass Russland über natürliche Ressourcen wie Öl, Kohle und Metalle verschiedener Art verfügt, die Indien beziehen kann.

Russlands außenpolitischer Kurs hat nicht nur den zweijährigen Konflikt in der Ukraine überstanden, sondern die ihm zugrunde liegende Denkweise hat sich tatsächlich bestätigt. Dies zeigt sich am besten in dem uneingeschränkten Vertrauen, das Putin in Außenminister Sergej Lawrow setzt, der bereits seit 20 Jahren an der Spitze der Geschicke steht und damit nach Andrej Gromyko der dienstälteste Spitzendiplomat auf dem Smolenskaja-Platz ist.

Quelle: https://www.indianpunchline.com/putin-resets-compass-for-voyage-ahead/
Die Übersetzung besorgte Andreas Mylaeus


 

auch bei dugin fehlt der spirituelle hintergrund. es geht in wirklichkeit um die konfrontation mit den satanistischen eliten...

 


Der Philosoph, Politikwissenschaftler und Soziologe Alexander Dugin (zweiter von links) am 27.02.2024 auf dem zweiten Kongress der internationalen russophilen Bewegung in Moskau.

Von Alexander Dugin: Nicht nur ein Interessenkonflikt: In der Ukraine wird über das Schicksal der Welt entschieden
Multipolarität lasse sich als Wahrung der kulturellen und zivilisatorischen Vielfalt unserer Welt begreifen, meint der streitbare und nicht unumstrittene Philosoph Alexander Dugin in seinem jüngsten Artikel. Sie wird damit zum Kernanliegen der konservativen Kräfte, die sich gegen postmoderne Uniformität des Westens wehren.

Der Amtsantritt von Präsident Putin markiert eine neue Etappe in der Geschichte Russlands. Einige Linien früherer Perioden werden sicherlich fortgesetzt werden. Einige werden eine kritische Schwelle erreichen. Andere werden rückgängig gemacht werden. Aber es muss auch etwas Neues kommen. Ich möchte die Aufmerksamkeit auf den ideologischen Aspekt lenken, der ein grundlegender Vektor für die weitere Entwicklung Russlands im internationalen Kontext werden kann.

In unserer erbitterten Konfrontation mit dem Westen, der am Rande eines nuklearen Konflikts und des Dritten Weltkriegs steht, wird das Problem der Werte immer deutlicher und kontrastreicher. Der Krieg in der Ukraine ist nicht nur ein Konflikt zwischen Staaten mit ihren ganz und gar rationalen nationalen Interessen, sondern ein Zusammenprall von Zivilisationen, die ihre Wertesysteme erbittert verteidigen. Heute kann man mit Sicherheit sagen, dass Russland endgültig auf den Schutz traditioneller Werte gesetzt hat und mit ihnen die grundlegenden Prozesse zur Stärkung seiner eigenen zivilisatorischen Identität und geopolitischen Souveränität verbindet. Dabei handelt es sich nicht einfach um unterschiedliche Interessen von getrennten Einheiten innerhalb derselben – westlichen – Zivilisation, wie es bis vor kurzem noch möglich war, den Konflikt zwischen Russland und dem kollektiven Westen zu interpretieren, wenn auch mit einer gewissen Dehnung. Jetzt aber ist es offensichtlich geworden, dass zwei Wertesysteme aufeinanderprallen. Der moderne kollektive Westen steht fest auf der Seite:

des absoluten Individualismus;
der LGBT* und der Genderpolitik;
des Kosmopolitismus;
der "Cancel Culture" ("Kultur des Tilgens");
des Posthumanismus;
der unbeschränkten Migration;
der Zerstörung aller Formen von Identität;
der kritischen Rassentheorie (nach der ehemals unterdrückte Völker das Recht haben, ihre ehemaligen Unterdrücker zu unterdrücken);
der relativistischen und nihilistischen Philosophie der Postmoderne.

Der Westen zensiert gnadenlos seine eigene Geschichte, verbietet Bücher und Kunstwerke. Der US-Kongress bereitet sich darauf vor, ganze Schriftstücke zu streichen, die angeblich bestimmte Personengruppen aus ethnischen und religiösen Gründen beleidigen. Darüber hinaus hat die Entwicklung digitaler Technologien und neuronaler Netze die Übertragung der Weltherrschaft von der Menschheit auf die künstliche Intelligenz auf die Tagesordnung gesetzt – und eine Reihe westlicher Autoren preisen dies bereits als unglaublichen Erfolg und lang erwarteten Moment der Singularität.

Im Gegensatz dazu vertritt Putins Russland ausdrücklich eine ganz andere Werteordnung, von der viele im Dekret Nr. 809 vom 9. November 2022 festgeschrieben sind. Russland verteidigt entschieden:

die kollektive Identität gegen den Individualismus;
den Patriotismus gegen den Kosmopolitismus;
die gesunde Familie gegen die Legalisierung von Perversionen;
die Religion gegen Nihilismus, Materialismus und Relativismus;
das menschliche Wesen gegen posthumanistische Experimente;
die organische Identität gegen ihre Aushöhlung;
die historische Wahrheit gegen die "Cancel Culture".

Es gibt also zwei gegensätzliche Orientierungen, mehr noch, zwei antagonistische Ideologien, zwei Weltanschauungssysteme. Russland wählt die Tradition – der Westen hingegen wählt alles, was nicht traditionell und sogar antitraditionell ist.

Das macht den Konflikt in der Ukraine, wo sich diese beiden Zivilisationen in einer erbitterten und entscheidenden Schlacht gegenüberstehen, zu etwas, das weit mehr als ein gewöhnlicher Interessenkonflikt ist. Das ist er natürlich auch, aber es ist nicht die Hauptsache. Die Hauptsache ist, dass zwei Modelle der weiteren Entwicklung der Menschheit in die Konfrontation eingetreten sind – der liberale, globalistische, antitraditionelle Weg des modernen Westens oder der alternative, multipolare, polyzentrische Weg mit der Bewahrung von Tradition und traditionellen Werten, für den Russland kämpft.

Und hier ist es höchste Zeit festzustellen, dass die multipolare Welt, zu der sich Russland in der vorangegangenen Phase von Putins Herrschaft bekannt hat, nur dann Sinn macht, wenn wir das Recht jedes Pols, jeder Zivilisation (heute eindeutig in BRICS vertreten) auf ihre eigene Identität, ihre eigene Tradition, ihr eigenes Wertesystem anerkennen. Multipolarität wird sinnvoll und gerechtfertigt, wenn wir von der Pluralität der bestehenden Kulturen ausgehen und ihr Recht anerkennen, die jeweils eigene Identität zu bewahren und sich auf der Grundlage interner Prinzipien zu entwickeln. Das bedeutet, dass die Pole der multipolaren Welt im Gegensatz zum globalistischen unipolaren Modell, in dem westliche Werte als universelle Werte standardmäßig dominieren, mehr oder weniger dem Weg Russlands folgen, aber nur unter dem Schutz ihrer traditionellen Werte, die jedes Mal anders sind.

Wir sehen dies deutlich im heutigen China. Es lehnt nicht nur Globalismus, Liberalismus und globalen Kapitalismus als Dogma ab, während es viele Merkmale der sozialistischen Ordnung beibehält, sondern wendet sich zunehmend den ewigen Werten der chinesischen Kultur zu, indem es die politische und soziale Ethik des Konfuzius, die die Gesellschaft mehrere Jahrtausende lang inspiriert und geordnet hat, in einer neuen Runde wiederbelebt. Es ist kein Zufall, dass eine der führenden Theorien der internationalen Beziehungen im modernen China auf der antiken Idee der Tianxia beruht, nach der China im Zentrum des Weltsystems steht und alle anderen Nationen, die das Himmelsreich umgeben, an der Peripherie liegen. China ist sein eigenes absolutes Zentrum, offen für die Welt, aber streng auf seine Souveränität, Einzigartigkeit und Identität bedacht.

Das moderne Indien (Bharat) bewegt sich in die gleiche Richtung, insbesondere unter der Herrschaft von Narendra Modi. Auch hier wird es von einer tiefen Identität, der Hindutva, beherrscht, die die Grundlagen der alten vedischen Kultur, Religion, Philosophie und Gesellschaftsordnung wiederbelebt.

Noch kategorischer lehnt die islamische Welt das Wertesystem des kollektiven Westens ab, das mit den islamischen Gesetzen, Regeln und Haltungen überhaupt nicht vereinbar ist. Auch hier liegt der Schwerpunkt auf der Tradition.

In diese Richtung bewegen sich die Völker Afrikas, die eine neue Runde der Entkolonialisierung einläuten – dieses Mal des Bewusstseins, der Kultur und der Denkweise. Immer mehr afrikanische Denker, Politiker und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens besinnen sich auf die Wurzeln ihrer autochthonen Kulturen.

Auch Lateinamerika entdeckt allmählich diese neuen Horizonte des Traditionalismus, der Religion und der kulturellen Wurzeln und gerät dabei immer mehr in direkten Konflikt mit der Politik der Vereinigten Staaten und des kollektiven Westens. Die Besonderheit Lateinamerikas besteht darin, dass der antikoloniale Kampf lange Zeit überwiegend unter linken Parolen geführt wurde. Jetzt ändert sich die Situation: Die Linke entdeckt die traditionellen und konservativen Ursprünge ihres Kampfes (z. B. in der katholisch dominierten "Theologie der Befreiung") und eine konservative antikoloniale Front wächst (z. B. die "Theologie der Völker").

Bislang ist jedoch keine der auf Multipolarität ausgerichteten und die Tradition bevorzugenden Zivilisationen in einen direkten bewaffneten Konflikt mit dem Westen eingetreten, mit Ausnahme Russlands. Viele zögern und warten auf das Finale dieser dramatischen Konfrontation. Obwohl potenziell die Mehrheit der Menschheit die Hegemonie des Westens und seiner Wertesysteme ablehnt, ist außer uns niemand bereit, in eine direkte Auseinandersetzung mit ihm zu treten.

Damit hat Russland die einmalige Chance, sich an die Spitze der globalen konservativen Wende zu stellen. Es ist an der Zeit, direkt zu erklären, dass Russland den Anspruch der westlichen Zivilisation auf die Universalität ihrer Werte bekämpft und voll und ganz für die eigene (russisch-nationale, orthodoxe) und für alle anderen Traditionen eintritt. Denn im Falle des Triumphs des Globalismus und der Aufrechterhaltung der westlichen Hegemonie sind auch sie von der drohenden Zerstörung bedroht.

Alle Zivilisationen der Welt sind konservativ, das ist ihre Identität. Und sie sind sich dessen zunehmend bewusst. Nur der postmoderne Westen hat sich zu einem radikalen Bruch mit seinen klassischen christlichen Wurzeln entschlossen und begonnen, eine Kultur der Degeneration, der Perversion, der Pathologie und der technischen Ersetzung des Menschen durch posthumane Organismen (von der KI bis zu Cyborgs, Chimären und Produkten der Gentechnik) aufzubauen. Im Westen selbst lehnt ein bedeutender Teil der Gesellschaft diesen Weg ab und wendet sich zunehmend gegen den Kurs der herrschenden postmodernen liberalen Eliten auf die endgültige Abschaffung der kulturellen und historischen Identität der westlichen Gesellschaften selbst.

In seiner neuen Amtszeit als Präsident wäre es durchaus sinnvoll, wenn Putin die Verteidigung der Tradition – in Russland und in der Welt, einschließlich des Westens selbst – zu seiner wichtigsten ideologischen Mission erklären würde. Wladimir Putin ist in den Augen der gesamten Menschheit bereits der größte Führer, der diese Rolle spielt und der westlichen Hegemonie heldenhaft Widerstand leistet. Es ist höchste Zeit, Russlands globale Mission zum Schutz der Zivilisationen und ihrer traditionellen Werte zu verkünden. Hören Sie auf, mit dem Westen mitzuspielen und seine Strategien, Begriffe, Protokolle und Kriterien zu übernehmen. Die zivilisatorische Souveränität besteht darin, dass jede Nation das uneingeschränkte Recht hat, jede externe Politik zu akzeptieren oder abzulehnen, sich auf ihre eigene Art und Weise zu entwickeln, unabhängig davon, dass jemand von außen damit unzufrieden sein mag.

So erklärte die britische Zeitung Mirror kürzlich, am 7. Mai, neun Worte aus der Antrittsrede von Präsident Putin zu einer "schrecklichen Bedrohung für den Westen". Diese Worte lauteten: "Russland selbst und nur es selbst wird sein eigenes Schicksal bestimmen!" Das heißt, jede Andeutung von Souveränität wird vom Westen als eine Kriegserklärung an ihn aufgefasst. Russland hat sich darauf eingelassen und ist bereit, jeden zu unterstützen, der seine Souveränität ebenso stark verteidigt wie es selbst.

Natürlich hat jede Zivilisation ihre eigenen traditionellen Werte. Aber heute werden sie alle von einer aggressiven, intoleranten, betrügerischen und pervertierten Zivilisation angegriffen, die einen gnadenlosen Krieg gegen jede Tradition führt – gegen die Tradition als solche. Putins Russland kann sich in einer solchen Situation offen zum Träger einer umgekehrten Mission erklären – zum Verteidiger von Tradition und Norm, von Kontinuität und Identität.

Früher, im zwanzigsten Jahrhundert, beruhte der Einfluss Russlands in der Welt hauptsächlich auf der linken Bewegung. Heute ist sie jedoch allmählich verschwunden, entweder vom Liberalismus aufgesogen oder von selbst erschöpft (mit wenigen Ausnahmen und meist im Bündnis mit antikolonialen konservativen Tendenzen). Jetzt lohnt es sich, auf die Konservativen, die Verfechter der zivilisatorischen Identität zu setzen. Und so wird ein neuer Slogan geboren: Traditionalisten aller Länder, vereinigt euch! Und wir sollten uns nicht genieren, schämen oder verstecken. Je selbstbewusster wir diesen Weg beschreiten, desto schneller und zuverlässiger wird unser Einfluss in der Welt wachsen. Wenn wir uns entschieden haben, auf Multipolarität zu setzen, müssen wir darin konsequent sein.

Jeder sieht in Putin bereits die Schlüsselfigur des konservativen Aufbruchs. Es ist an der Zeit, dies offen auszusprechen. Kritik aus dem Westen lässt sich in jedem Fall nicht vermeiden, aber die entscheidenden Faktoren in den Beziehungen zum Westen sind jetzt andere. Und unsere Verbündeten – aktuelle und potenzielle – werden Russland mit neuem Elan unterstützen. Schließlich werden ihnen unsere weitreichenden Ziele und Absichten nun klar sein. Sie werden uns vertrauen und ohne Misstrauen und Zögern gemeinsam mit uns eine gerechte und ausgewogene Welt im Interesse der gesamten Menschheit aufbauen.

Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 14. Mai 2024 auf ria.ru erschienen

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