Im Amtsenthebungsverfahren gegen US-Präsident Donald Trump gerät eine ganze Familie aus den oberen Zirkeln der Macht ins Scheinwerferlicht: Die Familie Biden...
Analysen 23.-30.1.20: Niki Vogt: Joe Biden. Grüne Windenergie. Wirtschaft & grüne Politik. Bargeld und Edelmetall. Holz- und Kaminöfen droht die Stilllegung! Überwachungsstaat. Protest gegen Tesla Gigafactory. Nach Brexit der Swexit.
Lateinamerika
"Solange ich am Leben bin und Lust habe"
– Der Kampf von Evo Morales um sein politisches Erbe
Aus seinem Exil in Argentinien kämpft der durch einen Putsch abgesetzte ehemalige Präsident Boliviens, Evo Morales, um sein politisches Erbe. Sein früherer Wirtschaftsminister Luis Arce kandidiert bei den kommenden Präsidentschaftswahlen. Umfragen sehen ihn als klaren Wahlsieger.
In einem Interview mit der Zeit äußerte sich der frühere Präsident Boliviens, Evo Morales, aus seinem derzeitigen politischen Exil in Argentinien zu seiner Wiederwahl im Oktober 2019 und dem anschließenden Putsch gegen ihn, der ihn schließlich drei Wochen später zum Rücktritt bewog.
Trotz seiner Wiederwahl in der ersten Wahlrunde schätzt Morales es mittlerweile als seinen größten politischen Fehler ein, für eine vierte Amtszeit kandidiert zu haben.
Es war ein Fehler, mich erneut zur Wahl zu stellen. Aber das Volk hatte sich entschieden, und ich habe seinen Vorschlag für eine vierte Kandidatur im Rahmen der Verfassung akzeptiert", so Morales.
Die mögliche Wiederwahl von Morales war im Februar 2016 Gegenstand heftiger Debatten. Ein Referendum über die Änderung der aktuellen Verfassung des Landes, die die Begrenzung auf zwei Amtszeiten aufgehoben hätte, scheiterte damals knapp (mit 48,7 Prozent Zustimmung gegen 51,3 Prozent Ablehnung). Anhänger von Morales beklagten eine mediale Schmutz- und Manipulationskampagne der Opposition im Vorfeld der Abstimmung und wandten sich an das Verfassungsgericht Boliviens. Dieses ließ die erneute Kandidatur zu und berief sich in seiner Entscheidung auf die vorrangigere Rechtsnorm des Völkerrechts in Form von Artikel 23 der Amerikanischen Menschenrechtskonvention, wonach eine Beschränkung der Amtszeit grundlegend gegen persönliche politische Rechte verstößt.
Auch die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und deren Interamerikanische Kommission für Menschenrechte (IAKMR) legitimierten die neuerliche Kandidatur von Morales bei der Präsidentschaftswahl 2019. Der Generalsekretär der OAS, Luis Almagro, vollzog damit eine Kehrtwende und lobte die Erfolge der Regierung Morales. Zuvor hatte Almagro die Entscheidung des bolivianischen Verfassungsgerichts zur Ermöglichung der Wiederwahl von Morales noch scharf kritisiert.
Am 20. Oktober 2019 gewann Morales die Wahl in der ersten Runde mit über 40 Prozent der Stimmen und mehr als zehn Prozent Vorsprung gegenüber dem führenden Oppositionskandidaten Carlos Mesa. Drei Wochen später, am 10. November, kündigte der damalige Präsident jedoch auf Druck der Führung der Streitkräfte und der Polizei seinen Rücktritt an, nachdem gewalttätige Oppositionsgruppen die Häuser von Regierungsbeamten niedergebrannt und damit gedroht hatten, Angehörige der indigenen Führer und der politischen Bewegung Movimiento Al Socialismo (MAS) von Morales zu "entführen und zu misshandeln".
Die Rolle der OAS in der politischen Krise Boliviens
Die OAS und ihr Generalsekretär Almagro spielten eine Schlüsselrolle bei der Eskalation der Spannungen wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten bei der Auszählung der Wählerstimmen, die der Auslöser für den anschließenden Staatsstreich durch die rechte Opposition waren. Während die OAS in Stellungnahmen kurz nach der Abstimmung Wahlmanipulationen andeutete und Almagro selbst in einer neuerlichen Kehrtwende öffentlich von einem "Staatsstreich durch den Wahlbetrug zugunsten von Morales" sprach, konnte die OAS bis heute keinerlei Beweise für den von ihr behaupteten Betrug vorlegen. So taucht auch das Wort "Betrug" im OAS-Abschlussbericht zu den Wahlen an keiner Stelle auf.
Wie internationale Kritiker der OAS-Wahluntersuchung und Morales selbst damals betonten, reichte nicht einmal die komplette Annullierung der 226 Wahldokumente, in denen angebliche Unregelmäßigkeiten festgestellt wurden, aus, um den von der Verfassung festgelegten Vorsprung von zehn Prozent für den Sieg in der ersten Runde zunichte zu machen.
Es gab keinen Betrug. Die OAS hat Bolivien mit ihrem Wahlbericht in Brand gesteckt", wiederholte Morales seine Kritik in seinem Interview mit der Zeit.
Darüber hinaus erklärte Morales, dass bis zum Tag seines Rücktritts keine Todesfälle im Zusammenhang mit der politischen Krise im Land zu verzeichnen waren. Nach Angaben des Büros des Ombudsmanns starben zwischen dem 20. Oktober, als die Wahlen in Bolivien stattfanden, und dem 28. November 35 Personen im Rahmen des politischen Konflikts. Wobei jedoch 32 von ihnen nach dem Staatsstreich gegen den Präsidenten umkamen.
Nachdem der Putsch gegen ihn durch die Rücktrittsforderungen der Militär- und Polizeispitze erfolgt war, suchte Morales in Mexiko Zuflucht, um sein Leben zu retten. Wenig später begab er sich nach Argentinien, das ihm unter dem neu gewählten Präsidenten Alberto Fernández politisches Asyl gewährte.
Die Rolle Washingtons
Von seiner Zuflucht in Buenos Aires aus bekräftigte Morales, dass Washington hinter dem Putsch gegen ihn stehe und dabei die enormen Vorkommen an Lithium von Bedeutung seien. Bolivien verfügt Schätzungen zufolge mit 21 Millionen Tonnen über die größten Lithiumreserven der Welt.
Wir brauchten Partner, um unsere Lithiumindustrie aufzubauen. Wir haben eine internationale öffentliche Ausschreibung durchgeführt, und China und Deutschland haben gewonnen. Wir haben beschlossen, die Vereinigten Staaten außen vor zu lassen, deshalb bin ich überzeugt, dass es einen Putsch gegen mich wegen Lithium gab", sagte Morales.
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Hoffnung auf Rückkehr – und auf den Wahlsieg seines früheren Wirtschaftsministers
Die De-facto-Regierung Boliviens beschuldigt unterdessen Morales der "Aufwiegelung", des "Terrorismus" sowie der "Finanzierung des Terrorismus" und hat Haftbefehl gegen ihn erlassen.
Doch trotz des Risikos einer Rückkehr in das Andenland sagte Morales der Zeit, dass er hofft, noch früher als geplant zurückzukehren, um das Land zu befrieden:
Vielleicht sehen wir uns in Bolivien viel früher, schon im Wahlkampf, wieder.
Am 19. Januar hatten Morales und die übrige Führung des MAS mit Luis Arce und David Choquehuanca die Kandidaten für das Amt des Präsidenten und Vizepräsidenten bei den kommenden Präsidentschaftswahlen am 3. Mai nominiert.
Wir haben Luis Arce gewählt, weil die wirtschaftliche Frage im Wahlprogramm der MAS von grundlegender Bedeutung sein wird", erläuterte der frühere Präsident die Kür des Kandidaten für seine Nachfolge.
Morales bezog sich damit auf die hohen Wachstumsraten von knapp fünf Prozent in den zurückliegenden Jahren in Bolivien sowie die Reduktion der Armut während seiner Amtszeit. Offiziellen Zahlen zufolge verringerte sich die Armut von 38,2 Prozent im Jahr 2005 auf 17,1 Prozent in 2018. In dieser Zeit verstaatlichte seine Regierung Schlüsselunternehmen und Bodenschätze wie die Erdgasvorkommen des Landes.
Arce ist ein international anerkannter Ökonom und war zwischen 2006 und 2017 sowie von Januar 2019 bis zum Putsch im November Wirtschafts- und Finanzminister in der Regierung Morales. Seine Rolle an der Spitze der Wirtschaftspolitik war entscheidend zur Entwicklung des politischen Projekts des ersten indigenen Präsidenten des Landes. Tatsächlich gilt Arce in den Reihen der MAS als Mentor des "wirtschaftlichen, sozialen, gemeinschaftlichen und produktiven Modells", das in Bolivien während der 14-jährigen Morales-Präsidentschaft umgesetzt wurde.
Das Modell soll Bolivien aus seiner Abhängigkeit vom Rohstoffsektor, insbesondere in den Bereichen Öl und Gas, Bergbau, Elektrizität und der Nutzung weiterer Naturressourcen führen und die Überschüsse bei den Einnahmen aus deren Export für den Ausbau der verarbeitenden Industrie, der Landwirtschaft und des Tourismus einsetzen, womit Beschäftigung und Einkommen für die Bevölkerung geschaffen werden.
Ziel ist es, Bolivien aus der Abhängigkeit vom Rohstoffexport zu befreien, um das Primär- und Exportmodell aufzugeben und ein industrialisiertes und produktives Bolivien aufzubauen", hieß es in einem Dokument aus seinem Ministerium.
Arce selbst erläuterte sein Modell ausführlich in einem 2015 veröffentlichten Buch (El Modelo Económico Social Comunitario Productivo Boliviano) und stellte es der neoliberalen Doktrin gegenüber, die im Andenstaat vor dem Amtsantritt von Morales dominiert hatte.
Choquehuanca war von Januar 2006 bis Januar 2017 Außenminister und danach bis November 2019 Generalsekretär der Bolivarianischen Allianz für Amerika. Er ist indigener Abstammung und war vor seiner politischen Laufbahn Mitglied in der Führung des Gewerkschaftsverbandes der Bauern und Indigenen.
Eine Kombination aus wissenschaftlichen Erkenntnissen und dem ursprünglichen tausendjährigen Wissen, die Einheit von Land und Stadt, Körper und Seele", so beschreibt Morales das Kandidatenduo aus Arce und Choquehuanca.
Das ehemalige Staatsoberhaupt sieht seine Hoffnungen auf die Bewahrung und Fortsetzung seines Erbes in aktuellen Umfragen bestätigt, die für den MAS-Kandidaten einen klaren Wahlsieg in der ersten Runde bei den nächsten Präsidentschaftswahlen vorhersagen:
Meinungsumfragen und Prognosen in Bolivien sprechen für unseren Präsidentschaftskandidaten Luis Arce Catacora, der an erster Stelle steht und die Stabilität, das Wirtschaftswachstum und die Umverteilung des Reichtums garantiert, die wir weiterhin fördern müssen.
In den beiden von Morales zitierten Umfragen liegt Arce mit 79 bzw. 64 Prozent der Stimmen deutlich vor den Kandidaten der rechten Opposition: Carlos Mesa, ehemaliger Präsident und Verlierer der Wahl im Oktober 2019, mit 21 Prozent sowie Luis Camacho, Geschäftsmann und Hauptinitiator der Putschbewegung gegen Morales, mit 36 Prozent.
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Weiterführende Informationen
Wirtschaft
Russland, China und Indien wollen gemeinsame Alternative zum SWIFT-Zahlungssystem einrichten
Russland, China und Indien wollen ein gemeinsames Zahlungssystem einrichten, das als Alternative zu SWIFT arbeiten soll, woran auch der Iran sein Interesse bekundete. Das neue System soll den Partnerstaaten Unabhängigkeit im Bereich des Zahlungsverkehrs bringen.
Die eurasischen BRICS-Staaten Russland, Indien und China haben beschlossen, ihre Finanznachrichtensysteme miteinander zu verbinden, um das internationale SWIFT-Netz zu umgehen.
Das russische Finanznachrichtensystem SPFS soll mit dem chinesischen grenzüberschreitenden Interbankenzahlungssystem CIPS verbunden werden. Obwohl Indien noch kein nationales Finanznachrichtensystem hat, plant man, die Plattform der russischen Zentralbank mit einem in Entwicklung befindlichen Inlandsdienst zu kombinieren.
Es wird erwartet, dass das neue System als Gateway-Modell funktioniert, in dem Nachrichten über Zahlungen in Übereinstimmung mit einem bestimmten Finanzsystem transcodiert werden.
Laut der russischen Zeitung Iswestija werden die beteiligten Parteien ungehindert auf dieser gemeinsamen Plattform arbeiten können.
Russland begann im Jahr 2014 mit der Entwicklung von SPFS als Folge der Drohungen Washingtons, das Land vom SWIFT-System zu trennen. Die erste Transaktion innerhalb des SPFS-Netzwerks mit einem Nichtbankenunternehmen wurde im Dezember 2017 durchgeführt. Die Direktorin des nationalen Zahlungssystems der russischen Zentralbank Alla Bakina sagte:
Wir haben die Möglichkeit, sowohl ausländische Banken als auch ausländische juristische Personen an das SPFS anzubinden. Heute sind etwa 400 Teilnehmer am System beteiligt. Mit acht ausländischen Banken und 34 juristischen Personen wurden bereits Vereinbarungen getroffen.
Bakina erklärte, dass der Zahlungsverkehr durch das System gewachsen ist und derzeit rund 15 Prozent des gesamten internen Verkehrs ausmacht, gegenüber zehn und elf Prozent im Vorjahr.
Die Länder der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) arbeiten derzeit mit der Zentralbank von Russland an technischen Möglichkeiten für den Anschluss an das russische SPFS. Der Iran, der in diesem Monat offiziell der russisch geführten Freihandelszone EAWU beigetreten ist, ist auch an der Entwicklung einer gemeinsamen Alternative zu SWIFT interessiert.
Im vergangenen Jahr hat SWIFT einige iranische Banken von seinem Messaging-System abgeschnitten.
SWIFT ist ein Finanznetzwerk, das seinen Teilnehmern weltweit grenzüberschreitende Finanztransfers ermöglicht. Das Unternehmen hat seinen Sitz zwar in Belgien, sein Vorstand besteht jedoch aus Führungskräften von US-Banken unter US-amerikanischer Jurisdiktion, was es der US-Regierung ermöglicht, gegen Banken und Aufsichtsbehörden auf der ganzen Welt vorzugehen. Das System unterstützt die meisten Interbanken-Meldungen und verbindet über 11.000 Finanzinstitute in praktisch jedem Land der Erde. Die Europäische Union soll ebenfalls an einer Alternative zu SWIFT arbeiten. Das von Deutschland geförderte Projekt wird Brüssel helfen, die US-Sanktionen gegen den Iran zu umgehen.
Meinung
Gaddafis letzte Warnung
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von Arkadi Shtaev
"Teneo te, Africa" ("Ich halte dich fest, Afrika") soll Julius Cäsar gesagt haben, als er erstmals seinen Fuß auf heute libyschen Boden setzte. Das war Ausdruck des Machtanspruches der damaligen westlichen Supermacht, des Römischen Reiches. Für den heutigen Westen – vor allem aber für Europa – scheint dieser Ausspruch keine Gültigkeit mehr zu haben. Im Gegenteil, "Ich halte dich von mir fern, Afrika", scheint dort das Motto unserer Tage zu sein. Dabei grenzt der Kontinent Afrika ja fast direkt an die EU, ist also unmittelbarer Bestandteil unseres geopolitischen Schicksals.
Daran ändert auch die sogenannte Libyen-Konferenz nichts, die kürzlich in Berlin abgehalten wurde und deren Verhandlungsergebnisse kaum umzusetzen sein dürften. In der Medienberichterstattung zur Konferenz wurde zumeist außen vor gelassen, wie es zu dem Bürgerkrieg in dem nordafrikanischen Land kommen konnte und welch verhängnisvolle Rolle der Westen dabei spielte.
Vor den Folgen der westlichen Politik hatte der libysche Machthaber Muammar al-Gaddafi in einem Interview mit dem französischen Journal du Dimanche noch im Februar 2011 gewarnt – einen Monat bevor NATO-Staaten eine militärische Intervention zu seinem Sturz in Gang setzten, die das Land in Chaos und Bürgerkrieg versinken ließ.
Ihr sollt mich recht verstehen. Wenn ihr mich bedrängt und destabilisieren wollt, werdet ihr Verwirrung stiften, [Al-Qaida-Chef Osama] Bin Laden in die Hände spielen und bewaffnete Rebellenhaufen begünstigen. Folgendes wird sich ereignen: Ihr werdet von einer Immigrationswelle aus Afrika überschwemmt werden, die von Libyen aus nach Europa überschwappt. Es wird niemand mehr da sein, um sie aufzuhalten.
Als er diese Worte tätigte, konnte Gaddafi noch nicht ahnen, dass Osama bin Laden am 2. Mai 2011 von einer US-amerikanischen Sondereinheit auf pakistanischem Boden erschossen werden würde. Noch weniger war er sich wohl bewusst, dass er selbst im Oktober des gleichen Jahres als Flüchtling im eigenen Land ein grausames Ende finden würde.
Gaddafi wurde im Westen überschätzt
Das Zitat aus dem Interview soll nicht etwa dazu dienen, diesen Gewaltherrscher nachträglich rundweg zu legitimieren oder ihm gar einen Heiligenschein aufzusetzen, nur weil sich seine Vorhersagen als wahr erwiesen haben. Im Gegenteil: Gaddafi ist im Westen schon immer weit überschätzt worden. Er war nie ein großer arabischer Volksheld, als der er gern gegolten hätte. Ein paar einfältige Sensationsreporter konnte er mit seinen theatralischen Beduinenauftritten beeindrucken.
In den übrigen Staaten der arabisch-islamischen Welt wurde dieser unberechenbare Paranoiker als " mahbûl", als Verrückter, bezeichnet. Gaddafi mag für seine Untertanen ein weniger blutrünstig veranlagter Despot gewesen sein, als es Saddam Hussein im Irak war. Aber harmlos war dieser Autokrat nicht. Im Gegensatz zu Saddam Hussein, der die eigene Bevölkerung drangsalierte und zahllose Morde im Inland befahl, sich aber kaum als internationaler Terrorist betätigt hatte, unterstützte Gaddafi hingegen Verschwörer, Attentäter, Aufständische und Bombenleger weltweit – von Nordirland bis zu den südlichen Philippinen.
Libyen avancierte endgültig zum Schurkenstaat, als im Dezember 1988 über dem schottischen Städtchen Lockerbie eine Pan Am-Maschine explodierte, wobei 270 Menschen den Tod fanden. Ein Jahr später ereilte eine französische Linienmaschine über dem Niger das gleiche Schicksal. In beiden Fällen richtete sich der Verdacht gegen den libyschen Geheimdienst als Urheber der Anschläge. Durch die Zahlung von hohen Entschädigungssummen hatte sich Gaddafi damals noch freikaufen können.
Vom "bad guy" zum "good guy" des Westens im "Krieg gegen den Terror"
Die vom Westen damals verhängten Sanktionen konnten dem Führer der Volks-Dschamahirija, wie er das von ihm gegründete Staatswesens Libyens zu nennen pflegte, aufgrund des vorhandenen Ölreichtums nicht gefährlich werden. Gefährlich wurde es für Gaddafi allerdings, als der damalige US-Präsident George W. Bush seinen "Krieg gegen den Terror" startete. Gaddafi wusste, was ihm blühte, wenn er sich den neuen Weisungen Washingtons nicht unterordnen würde.
Geschickt passte er sich an, gestatte den Amerikanern verdächtige Produktionsstätten zu durchsuchen, um den Vorwurf zu entkräften, Libyen würde heimlich Massenvernichtungswaffen produzieren. Als er sich dann noch gegenüber dem Westen auf dem Gebiet der Erdölförderung äußerst entgegenkommend, gar unterwürfig zeigte, wurde aus dem "bad guy" über Nacht ein "good guy" – obwohl Gaddafi auf die Einführung von Demokratie und Menschenrechte verzichtete.
Dieser plötzliche Schmusekurs des Westens entlarvte nicht zum ersten Mal die heuchlerische Menschenrechtsdiplomatie, welche nur dann die Einhaltung dieser zweifelsohne edlen Prinzipien einfordert, wenn sich die betreffende Regierung den ökonomischen Interessen des Westens widersetzt. Zwischen Washington und Tripolis wurden die diplomatischen Beziehungen wieder etabliert und die Ölkonzerne aus den USA nahmen ihre Tätigkeit auf. Statt über diese Vorgänge den Mantel des Schweigens zu hüllen, entblödete sich die damalige US-Außenministerin Condoleezza Rice nicht zu erklären:
Libyen ist ein wichtiges Vorbild in einer Welt, die von den Regierungen Irans und Nordkoreas eine gründliche Umkehr erwartet.
Die Europäer, in Ermangelung eigener geopolitischer Zielsetzungen, folgten den diplomatischen Vorstößen der USA. Der britische Premierminister Tony Blair lobte Gaddafi als "soliden Partner des Westens". Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy bereitete Gaddafi in Paris einen triumphalen Empfang, was ihn einige Jahre später nicht davon abhalten sollte, bei der Ermordung seines damaligen Gastes, aufgrund der Einflüsterungen des Philosophen Bernard-Henri Lévy, aktiv behilflich zu sein.
Gaddafis Panafrikanismus machte Libyen zum Traumziel für die darbenden Massen der Sahelzone
Bei all diesen Rahmenbedingungen darf aber nicht unerwähnt bleiben, dass es Gaddafi während seiner über 40-jährigen Herrschaft gelang, das traditionell – in Tripolitanien und die Kyrenaika – gespaltene Libyen zusammenzuhalten sowie den Lebensstandard und das Bildungsniveau seiner Bevölkerung dramatisch zu erhöhen. Gegen die radikalen Strömungen, die man heute als Salafismus bezeichnet und die überwiegend von Saudi-Arabien aus weltweit Verbreitung finden, holte er schon in den 1980er Jahren zu vernichtenden Schlägen aus, während der Westen engste Beziehungen mit Riad pflegte und pflegt.
Im Laufe der Jahre nahm Gaddafi eine geopolitische Neuorientierung vor, und der von ihm in früheren Zeiten gepredigte Panarabismus wich einem ebenso utopisch anmutenden Panafrikanismus. Libyen wurde zu einem Traumziel für die darbenden Massen der Sahelzone sowie zu einem der größten Einwanderungsländer der Welt, gemessen an seiner Bevölkerungszahl. Nach dem Sturz Gaddafis haben in Tripolis nicht Demokratie und Marktwirtschaft Einzug gehalten. Vielmehr hat sich dieses ehemals reichste Land der Region zu einem gescheiterten Staat entwickelt, in dem ein Bürgerkrieg tobt und der entlang seiner uralten Bruch- und Trennlinien zerborsten ist.
Der Sturz Gaddafis hat auch die Konflikte in der Subsahara angeheizt. Während Europas Freiheit angeblich am weit entfernten Hindukusch verteidigt wird, wie es ein deutscher Politiker einmal auszudrücken pflegte, ist in unmittelbarer Nähe unseres Kontinents, an den Ufern des Mittelmeeres ein massiver Krisenherd entstanden, der das Leben der Flüchtlinge gefährdet, die Zukunft Nordafrikas verspielt und Europas Sicherheit in Frage stellt.
Und was macht Bernard-Henri Lévy, der einst seinen Präsidenten zum militärischen Einsatz in Libyen erfolgreich aufforderte? In Libyen wurde er schon lange nicht mehr gesehen. Dafür beglückte er vor einiger Zeit noch die Ukraine mit seinen weltumspannenden Erlösungsideologien.
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Nahost
Reisereportage: Spurensuche in Syrien – Teil 1
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von Karin Leukefeld
Tag und Nacht knarren die Noria, die Wasserräder am Orontes in Hama. Der vergangene Winter hat viel Regen gebracht, die Flüsse und Stauseen sind voll. Der Orontes wird in Syrien Nahr al-Asi genannt, der gesetzlose Fluss oder auch der Widerspenstige. Der Name rührt daher, dass der Asi, anders als in Syrien und in der Levante üblich, nicht von Nord nach Süd oder von Ost nach West ins Meer fließt, sondern aus dem Libanongebirge kommt und nach Norden fließt. Östlich von Antakya, dem historischen Antiochien, ändert der Asi seine Richtung und fließt nach Westen. Bei Samandağ, dem früheren Dschebel Sam’an, mündet der Fluss ins Mittelmeer.
Die Leute von Hama lieben die Wasserräder. Familien mit Kindern, Alt und Jung stehen am Ufer des Orontes und sehen zu, wie die mächtigen Räder im endlosen Reigen mit ihren hölzernen Schaufeln knarrend das Wasser umpflügen. Wenn die Räder sich drehen, gibt es genug Wasser im Fluss, und es ist ein gutes Jahr. Die Jungen schwimmen in den frühen Abendstunden nah an die Räder heran, versuchen sich, von den mächtigen Schaufeln mit in die Höhe ziehen zu lassen. Manchen gelingt es und sie stürzen sich dann aus großer Höhe schreiend hinunter in den Fluss. Die Zuschauer begleiten die Sprünge mit Rufen und Applaus.
Einst gab es in Hama mehr als 100 dieser großen Wasserräder aus Holz, die aus der Zeit der Ayyubiden im 12./13. Jahrhundert stammen. Ein Mosaikfund in Apameia aus dem 4./5. Jahrhundert legt nahe, dass die Wasserräder bereits im byzantinischen Reich in Betrieb waren. Wieder andere Quellen verweisen auf die Nutzung der Wasserräder im Römischen Reich. Die Syrische Regierung beantragte 1999, die Noria auf die Liste des Weltkulturerbes zu setzen.
Heute sind nur noch 17 Wasserräder in Hama erhalten. Nach Auskunft von Einwohnern verfügen noch zwei Familien in Hama über das handwerkliche Wissen, die Noria zu warten.
Von Hama nach Norden
Am Morgen geht die Fahrt von Hama auf der Autobahn M4 in Richtung Norden nach Chan Schaichun. Die ausländische Journalistin wird von Herrn Nasr vom offiziellen Medienbüro in Hama und einem Medienoffizier der syrischen Streitkräfte begleitet, der schon bei früheren Fahrten in der Provinz Hama und im südlichen Idlib dabei war. Das Grenzgebiet zwischen den Provinzen Hama und Idlib ist militärisches Operationsgebiet. Um hier als Journalistin unterwegs sein zu können, benötigt man nicht nur die Zustimmung des Informationsministeriums, sondern auch die der Armee.
An einem Kontrollpunkt nicht weit von Chan Schaichunführt uns der begleitende Offizier zu einer Tunnelanlage, die tief in einen Kalksandsteinhügel getrieben wurde. Drei Eingänge hat die Anlage. Nach einem Weg durch ein schmales Labyrinth endet der Gang in einem verputzten Raum mit gemauerten Bänken rundherum. In einer Ecke gibt es einen durch eine schwere Tür abgetrennten, winzigen Raum, in dem man nur stehen und sitzen, sich aber nicht hinlegen kann. Der ganze Raum war vermutlich ein Gefängnis, erklärt der begleitende Offizier. Der abgetrennte Raum war eine Strafkammer.
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Der Weg führt zurück durch einen weiteren Gang. Mit dem geringen Handylicht sind eine Küche und verschiedene andere Räume zu erkennen. Irgendwo in diesem Labyrinth, in dem man schnell die Orientierung verlieren kann, ragt ein langer Schacht als Lüftungsanlage bis zur Spitze des Kalksandsteinhügels. Am Ende ist der Himmel zu sehen. Sieben Tunnelanlagen wurden in dem Gebiet gefunden, das von der syrischen Armee Ende August 2019 eingenommen werden konnte.
Morek
Südlich der Provinzgrenze zwischen Hama und Idlib liegt der Ort Morek verlassen auf einem Hügel. Eine Brücke führt über die Autobahn. Hoch an einem Fahnenmast weht die syrische Fahne. Es ist still, die Luft flimmert in der Hitze.
Von der Brücke sieht man in östlicher Richtung in etwa zwei bis drei Kilometern Entfernung eine mit einer hohen Mauer abgesicherte Festung. Es ist der türkische Kontrollpunkt Nummer zwölf, Morek. Die türkische Fahne weht. Flutlichtanlagen sind durch das Vergrößerungsglas erkennbar, die Mauern sind mit zusätzlich aufgeschütteten Erdwällen befestigt. Manche Medien berichten von rund 300 türkischen Soldaten, die sich dort aufhalten sollen.
Der begleitende Offizier bestätigt das nicht. Man wisse nicht, wie viele türkische Soldaten sich dort befinden, sagt er. Die Basis sei komplett von der syrischen Armee eingeschlossen. Versorgungskonvois könnten mit Hilfe Russlands dorthin gelangen. Die Türken müssten abziehen, doch die syrische Armee werde nicht angreifen, betont der Offizier. Der Zeitpunkt des türkischen Abzugs aus Idlib werde politisch entschieden. "Sie müssen nicht nur aus Idlib abziehen", fügt der Offizier hinzu. "Die türkischen Besatzungstruppen müssen unser Land ganz verlassen. Das gilt für Idlib, Afrin, Aʿzāz, al-Bab, Dscharābulus – nirgends in Syrien werden sie bleiben."
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In der weiten Ebene vor der türkischen Festung stehen Hunderte von Pistazienbäumen, die nicht abgeerntet werden können.
Hier auf der Brücke sind wir sicher. Doch wenn wir uns der Basis weiter nähern, fangen die Türken an, auf uns zu schießen. Auch den Bauern geht das so, also bleiben sie den Pistazienbäumen fern.
Für die Zivilbevölkerung, die sich beim Vormarsch der syrischen Armee auf die syrisch-kontrollierte Seite retten konnte, wird bei Morek ein Übergangslager eingerichtet. Bevor sie in ihre Häuser in Chan Schaichun und den umliegenden Dörfern zurückkehren können, müssen das Gebiet entmint sowie die Strom- und Wasserversorgung wiederhergestellt werden.
Der syrische Zivilschutz
Die Fahrt geht weiter nach Chan Schaichun. Doch schon nach wenigen Kilometern biegt der Wagen am Kontrollpunkt Al-Salam (Frieden) in Richtung Osten auf eine Sandpiste ab. "Sie wollten doch die Gräber sehen, die kürzlich hier gefunden wurden", sagt der Offizier. "Der Zivilschutz von Homs hat in den letzten Tagen 44 Leichen gefunden. Vermutlich gibt es noch weitere Gräber."
Der Checkpoint Al-Salam ist ein Haltepunkt an der Autobahn, an dem Papiere und Genehmigungen kontrolliert werden. Dazu gehört ein Haus, von dem lediglich einige Wände und Treppen sowie ein Gerippe erhalten sind. Alle Fenster sind herausgebombt, die Mauern sind mit unzähligen Einschusslöchern übersät. In den oberen Stockwerken sitzen die Soldaten in den Räumen quasi im Freien, ihre Wäsche haben sie zum Trocknen ausgehängt.
In den umliegenden Feldern lagern militärische Einheiten mit schwerem Gerät. Auf einem Hügel stehen die Fahrzeuge des Syrischen Zivilschutzes der Provinz Hama. Daneben parkt ein Krankenwagen des Syrisch-Arabischen Roten Halbmonds. Einige Männer in orangefarbenen Westen stehen zusammen und besprechen die Arbeit. Der Hinweis auf ein weiteres anonymes Grab gibt ihrer Suche eine ungefähre Richtung vor. Abu Mohammed, der Teamleiter, erklärt sich zu einem Interview bereit und sagt, sie alle seien stolz, diese Arbeit machen zu können. Man sei es den Soldaten und deren Angehörigen schuldig, die sterblichen Überreste zu bergen.
Unsere Arbeit ist wirklich sehr hart", sagt Abu Mohammed. "Aber was wir tun, ist wie ein Geschenk für die Familien der Toten. Sie können zur Ruhe kommen, wenn ihre toten Angehörigen gefunden wurden und beerdigt werden können. Bis dahin wussten sie nicht, was mit ihnen geschehen war. Waren sie tot oder lebten sie noch, waren sie verletzt, wurden sie verschleppt? Wenn wir sie finden, können die Familien zur Ruhe kommen.
Alle sterblichen Überreste, die sie in den letzten Tagen gefunden hatten, gehörten zu einer Armeeeinheit, die sieben Monate lang von den Terrorgruppen in Chan Schaichun umzingelt war. "Sie hatten nichts, kein Essen, kein Wasser, und wenn die Luftwaffe versuchte, Proviant mit Fallschirmen abzuwerfen, wurden die Soldaten von Scharfschützen attackiert." Besonders mache ihn traurig, dass die Soldaten von ausländischen Kämpfern angegriffen worden seien.
Diese Terroristen sind aus dem Ausland gekommen. Die westlichen Staaten und vor allem die USA unterstützen sie bis heute. Diese Länder und die Terroristen selber zerstören den wahren Islam. Das ist ihre Mission. Sie zeigen den Islam nur als Mord und Totschlag. Der wirkliche Islam lehrt, wie die Menschen miteinander in Frieden leben, wie wir einander vergeben. Wie wir bisher gelebt haben.
Chan Schaichun
Gegen Mittag erreicht der Wagen Chan Schaichun. Am Kontrollpunkt wartet man schon, der Besuch der ausländischen Journalistin ist angekündigt. Chan Schaichun gehört zur Provinz Idlib, daher ist das Armeekommando Idlib zuständig. In einem Büro werden erneut Papiere und Genehmigungen überprüft. Dann geht es zu einem kurzen Informationsgespräch mit Offizieren verschiedener Einheiten.
Man habe viele ausländische Waffen gefunden, erklärt einer der Männer. NATO-Scharfschützengewehre, US-amerikanische TOW-Raketen und immer wieder russische Munition und Gewehre, die die Kämpfer aus den erstürmten Kasernen und Militärbasen der syrischen Armee in Idlib gestohlen hätten. Was mit den Waffen geschieht? Nach der Sicherstellung würden sie in ein zentrales Lager gebracht, alles weitere sei Sache der Regierung.
Auf die Bitte, den Ort des Giftgasanschlags vom April 2017 zu sehen, wird der Journalistin ein weiterer Offizier zugeteilt. Er fährt mit einem Jeep voraus. Die Häuser von Chan Schaichun liegen weit verstreut. Die Ursprünge des Ortes gehen auf eine Karawanserei aus dem 14. Jahrhundert zurück. Vor dem Krieg hatte die Stadt rund 35.000 Einwohner, die von Oliven, Pistazien und vom Weizenanbau gut lebten. Auch die strategische Lage an der Autobahn Damaskus–Aleppo wirkte sich günstig auf die Ökonomie der Stadt aus.
Das nutzten auch die Kampfgruppen, die 2011 aus der Türkei in die Provinz Idlib vorrückten und am Berg Zawija die ersten Ausbildungs- und Begrüßungslager aufbauten. Sarakeb, Maarat an-Numan und Chan Schaichun wurden 2013 beziehungsweise 2014 eingenommen. Die Autobahn Damaskus–Aleppo (M4) wurde gesperrt. Heute liegt Chan Schaichun weitgehend in Trümmern, Häuser und Straßen sind menschenleer. Ab und zu sind Soldaten zu sehen, vielleicht sind es auch Milizen in Uniformen, die Gebäude und strategische Kreuzungen bewachen.
An einer großen Kreuzung im Norden der Stadt bleiben die Autos stehen. Zu Fuß geht es zu dem Ort, an dem am 4. April 2017 eine chemische Bombe der syrischen Luftwaffe eingeschlagen sein soll. "Die ganze Welt hat die syrische Armee und Russland beschuldigt", sagt der Offizier. Nach vielen Untersuchungen, die seit der Befreiung von Chan Schaichun durchgeführt worden seien, gingen Russland und die syrische Armee davon aus, dass es sich um eine von den Kampfgruppen selbst verursachte Explosion mit Giftgas gehandelt habe.
"Wir haben diese Informationen von Personen, die dabei waren. Wir haben mit ihnen gesprochen. Wir haben ihre Namen." Ja, es habe einen Angriff der syrischen Luftwaffe an dem Tag gegeben, allerdings am anderen Ende der Stadt und viel später, als zu dem Zeitpunkt, an dem der Videoclip über einen Chemieangriff veröffentlicht worden sei. Der Bombentrichter sei alt und durch einen früheren Angriff verursacht worden. Die Kämpfer hätten den Trichter mit chemischen Substanzen gefüllt und dann selbst die Explosion ausgelöst. Viele Leute seien dorthin gelaufen, um zu sehen, was passiert ist. Da der Wind an diesem Morgen aus Westen wehte, seien die Menschen von der Giftgaswolke erfasst worden und starben. Offiziellen UN-Angaben zufolge sollen mehr als 80 Menschen gestorben sein, der begleitende Offizier spricht von 150 Toten.
"Nachdem wir Chan Schaichun befreit hatten, haben wir mit umfangreichen Untersuchungen begonnen. So ein Angriff widerspricht den Regeln der syrischen Streitkräfte. Wir wollen herausfinden, was wirklich geschehen ist." Russische und syrische Experten hätten wiederholt Bodenproben aus der Umgebung und von dem Bombenkrater genommen, um zu untersuchen, welches chemische Material eingesetzt wurde, so der Offizier weiter. Syrien habe alle seine chemischen Waffen den Vereinten Nationen zur Vernichtung übergeben. Dennoch werde mit den falschen Beschuldigungen alles getan, um Syrien zu beschuldigen und zu bestrafen.
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Die Gebäude sind weitgehend intakt, die Straße ist bis auf den Bombentrichter unbeschädigt. In einem Haus, das möglicherweise als medizinisches Zentrum diente, liegen Medikamente und medizinisches Gerät aus Deutschland, der Türkei, der Schweiz und Holland auf dem Boden verstreut. Eine große Menge an Wasservorräten in Flaschen steht unversehrt und völlig verstaubt in einem Raum. "Hier wurden vermutlich die ersten Videoaufnahmen von verletzten Menschen aufgenommen", erklärt der Offizier. Das Haus gehöre drei Brüdern, die die Geschichte erzählt hätten. Unterstützung hätten sie vom türkischen Geheimdienst bekommen.
Später steht der Offizier an dem Bombentrichter und erklärt, wie die Explosion vermutlich durchgeführt wurde. Innerhalb des Trichters seien zwei Plastiktaschen mit dem chemischen Material im Erdreich verstaut worden, die Plastikplanen sind immer noch zu sehen. Das Material habe vermutlich länger dort gelagert, sei aber von Sand überdeckt worden. Der normale Verkehr sei daran vorbeigefahren. Die Explosion habe erst stattgefunden, als sich eine günstige Gelegenheit bot. Das könnte eine Geberkonferenz in Brüssel gewesen sein, denn die Nachricht von dem angeblichen Giftgasangriff sei pünktlich zum Beginn der Konferenz auf allen Kanälen gemeldet worden. Die EU-Außenbeauftragte und alle in Brüssel versammelten Politiker verurteilten den Angriff und machten die syrische Regierung und Armee verantwortlich.
Die Filmaufnahmen waren vorbereitet, so der Offizier. Eine Bombe sei dann so in den Trichter eingelassen worden, dass der hintere Teil herausragte. Das bestätigen Fotos, die veröffentlicht wurden, um Syrien und Russland zu beschuldigen.
Russische und syrische Experten hätten seit der Befreiung von Chan Schaichun mehr als 40 Proben aus dem Krater entnommen. Sie kämen täglich, Ergebnisse lägen noch nicht vor. Dann fügt er hinzu, die syrischen Streitkräfte hätten alle notwendigen Waffen und bräuchten "weder chemische Waffen noch Nuklearwaffen", um die Kämpfer zu vertreiben. "Wir kämpfen gegen alle diese Terroristen, die unser Land und unseren Staat und auch unsere Gesellschaft zerstören wollen", sagt er dann.
Wir müssen unser Volk und unser Land schützen. Wir werden weiter machen, bis wir jeden Teil unseres Landes bis zur Grenze der Türkei und das ganze Syrien nördlich des Euphrats befreit haben.
Die oppositionellen Weißhelme beschuldigten die syrische Armee, nach dem Angriff mit Giftgas auch noch ein Krankenhaus bombardiert zu haben, in dem Opfer behandelt wurden. Der Offizier bringt die Autorin auch dorthin. Es handelt sich um ein sogenanntes Feldhospital, das wie ein Labyrinth in einen Kalksandsteinhügel hineingebaut wurde.
Aus Papieren, die die Autorin dort findet, geht hervor, dass es sich um das Al-Rahma-Hospital handelt. Der Ort liegt ganz im Osten, außerhalb von Chan Schaichun. Zerbombt wurde nicht das Höhlenkrankenhaus, sondern ein Gebäude davor, in dem – so Videoaufnahmen – vermutlich Fahrzeuge untergebracht waren. Nach Angaben der syrischen Armee sollen dort Waffen und Munition gelagert haben.
"Demokratie ist dreckig"
Die Fahrt geht weiter durch den Süden der Provinz Idlib. Nächstes Ziel ist Qal'at al-Mudiq. Am Straßenrand sind – wie auch in Chan Schaichun – große schwarze Hinweisschilder der "Brüder des Heiligen Krieges", der Mudschaheddin, aufgebaut.
"Männer dürfen sich nicht rasieren", ordnen sie an. "Frauen müssen den Niqab tragen" und "Der Islam ist der richtige Weg, Demokratie ist die Religion des Westens." Oder drastischer ausgedrückt: "Demokratie ist dreckig". An Mauern haben Ahrar al-Scham, der Islamische Staat oder andere Kampfgruppen ihre Parolen hinterlassen: "Der Islamische Staat wird bleiben."
Den Dörfern sind die Kämpfe der vergangenen Wochen und Monate anzusehen. Vieles ist zerstört, die Felder liegen brach, Oliven- und Pistazienbäume sind ungepflegt, verlassene Höfe sind zu Militärlagern geworden. Die Bevölkerung ist geflohen, Soldaten und Milizen bestimmen das Bild. Von hier wurden fast täglich die Orte südlich der Frontlinie beschossen, Mhardeh oder Suqalabieh. Raketen wurden auf die Stützpunkte der syrischen Streitkräfte abgefeuert, die Terroristen der früheren al-Nusra Front, die vielfach ihren Namen geändert und neue Bündnisse gegründet haben, befestigten ihre Stellungen für einen langen Kampf. Waffen und Munition kamen aus der Türkei.
Die Deeskalationszone, die von den Astana-Garantiemächten Russland, Iran und Türkei im September 2018 beschlossen worden war, wurde von den Terrorgruppen missachtet. Das war schließlich der Grund für die Offensive der syrischen Streitkräfte Anfang Mai. Nun rückt die Armee – mit Unterstützung der russischen Luftwaffe – weiter nach Norden in Richtung der Provinzhauptstadt Idlib vor.
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Apameia
Nach etwa einer halben Stunde Fahrt erscheint am Horizont die unglaubliche Kolonnadenstraße von Apameia. Jede einzelne Säule ist zu sehen und ragt – Krieg und Zerstörung zum Trotz – stolz in den Himmel.
Die prachtvolle Stadt Apameia soll im 3. Jahrhundert vorchristlicher Zeitrechnung für Apame gebaut worden sein, an die der mazedonische Feldherr und spätere König Seleukos I. sein Herz verlor. Die weitgehend erhaltene Prachtstraße wurde erst im 2. Jahrhundert nachchristlicher Zeitrechnung gebaut und ist 1.800 Meter lang. Es soll Raubgrabungen gegeben haben, doch die Autorin kann das 200 Hektar weite Gelände nur vom Rand aus betrachten. "Wir konnten es noch nicht von Minen räumen", sagt ein Offizier von der Burg Qal'at al-Mudiq, die westlich von Apameia liegt. Vor wenigen Tagen erst sei ein Soldat dort verletzt worden.
Qal‘at al-Mudiq
Die Zitadelle Qal’at al-Mudiq stammt ebenfalls aus der Seleukidenzeit, wurde aber im Laufe der Jahrhunderte weiter befestigt und ausgebaut. Während des Krieges konnte die Festung von einer syrischen Armeeeinheit gegen bewaffnete Gruppen verteidigt werden, die sich unterhalb der Burg, im gleichnamigen Ort Qal’at al-Mudiq einquartiert hatten.
Eine schmale, früher wenig benutzte Verbindungsstraße von der Burg in die nahe gelegene Stadt Suqalabieh sei aufrechterhalten worden, erklärt ein Offizier, der seit 2012 auf der Burg lebt und die Autorin in seinem Turmzimmer empfängt, um die Papiere und Genehmigungen zu überprüfen. Auf ein Interview ist er nicht vorbereitet, doch berichtet er allgemein, wie es ihm und einer Gruppe von Soldaten gelungen ist, die Zitadelle zu halten. Es habe aber immer wieder Opfer gegeben, er selbst sei zweimal nur knapp dem Tod entkommen. Der Turm bietet Ausblick auf die fruchtbare Ghab-Ebene, die sich bis zum Küstengebirge von Latakia erstreckt. Durch die alten Fenster pfeift der Wind.
In den Ort von Qal’at al-Mudiq geht es im Zickzack über eine steile Straße hinunter ins Tal. Das Apameia-Museum in der alten Karawanserei des Ortes ist geschlossen, der Museumswächter ist nicht aufzufinden. Die wachhabenden Soldaten vor dem Gebäude öffnen schließlich doch das schwere Eingangstor und lassen die Autorin im kühlen Eingangsbereich der dicken Steinmauern einen Blick in den Innenhof des Museums werfen. Die Ausstellungsräume sind geschlossen. Alle antiken Figuren, Bilder und Mosaike wurden frühzeitig nach Damaskus ins Nationalmuseum in Sicherheit gebracht. Über dem Tor, im Inneren des Eingangsbereichs, hängt wie eine große Traube ein Bienenschwarm.
Qal’at al-Mudiq liegt nur wenige Kilometer von Suqalabieh entfernt. Der Ort wird von orthodoxen Christen bewohnt und wurde immer wieder von den Kampfverbänden – allen voran der früheren al-Nusra-Front – mit Mörsergranaten und Raketen beschossen. Das mächtige Weizensilo mit seinen Nebengebäuden war eines der Zentren für die Weißhelme, die insgesamt drei Zentren im Ort unterhielten.
Trotz wiederholter Angriffe der syrischen Armee auf die Stellungen der früheren al-Nusra-Front in Qal’at al-Mudiq ist das Weizensilo bis auf zwei Einschläge unbeschädigt. Der Weizen aus dem Silo sei von den Kämpfern in die Türkei verkauft worden, sagt ein Offizier, der für Qal’at al-Mudiq zuständig ist. 2015 sei der Ort noch unter syrischer Regierungskontrolle gewesen. Damals hätten im Silo 80.000 Tonnen Weizen gelagert.
In der abseits liegenden Fahrzeughalle sind zerstörte Fahrzeuge der Weißhelme, ein zerstörter Bus und ein ebenfalls zerstörter türkischer Krankenwagen zu sehen.
Der Offizier aus Qal’at al-Mudiq erklärt, dass die Fahrzeuge Teil eines Plans gewesen seien, einen erneuten Giftgaseinsatz zu inszenieren und der syrischen Armee anzulasten. Der Plan sei – auch dank von Informanten auf Seiten der Terroristen – vereitelt worden. In einer Öllache liegt ein großes Transparent für die Weißhelme in Afrin.
Fahnen und Werbeplakate der vom Westen mit Millionen US-Dollar unterstützten Organisation liegen in Nebenräumen. Es wird lange dauern, bis Qal’at al-Mudiq wieder aufgebaut sein wird, sagt der Offizier aus Hama, der die Autorin seit dem Morgen begleitet. Das gelte für alle Dörfer in Idlib. Die Menschen sind geflohen. Wer wird in Zukunft die fruchtbaren Felder der Ghab-Ebene bestellen?
Nach Latakia
Der Tag geht zu Ende, der begleitende Offizier und Herr Nasr vom Medienzentrum Hama verabschieden sich. Mit einem Fahrzeug aus Suqalabieh werden sie zurückfahren, die Autorin wird mit ihrem Begleiter weiter nach Latakia fahren. Hinter dem Küstengebirge geht die Sonne unter. Das fruchtbare Ghab-Tal liegt friedlich im milden Abendlicht. Die schmale Landstraße führt nach Süden. Ein Bauer hat sein Motorrad hoch mit Holz beladen. Auf einem anderen drängen sich drei junge Männer. Mit einem weiteren transportiert ein Mann seine Frau und zwei Kinder nach Hause. Rechts und links der Straße liegen einfache Bauernhöfe, um die herum Schafe, Ziegen und Kühe weiden, zwischen ihnen laufen Enten und Hühner.
Glitzernde Fischteiche ziehen sich wie Perlen an einer Schnur aufgereiht entlang der Straße. Hoch steht das Schilfrohr, dicht wächst der Oleander mit Blüten in allen Rot-Schattierungen am Straßenrand. An der Hauptstraße geht es nach Westen über das Gebirge in Richtung Mittelmeer. In dem kleinen Café neben dem Kontrollpunkt der Armee sitzt ein alter Mann und lauscht der Musik aus einem winzigen Transistorradio. "Es ist türkische Musik", bestätigt er die Frage der Autorin. "Schön, nicht wahr!"
Eine Stunde später erreicht der Wagen die Küste bei Dschabla. Bis Latakia sind es noch rund 30 Kilometer. Die Abenddämmerung bricht herein, auf der Küstenautobahn herrscht reger Verkehr. Östlich der Autobahn nähert sich plötzlich von Süden her wie ein gigantischer Vogel ein großer Schatten, der langsam zu Boden geht. Ein Kampfjet landet auf dem russischen Militärstützpunkt Hmeimim, den Syrien Russland vertraglich für 49 Jahre überlassen hat.
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Die Maschine landet im Dunkel, weder auf der Landebahn gibt es Scheinwerfer, noch hat die Maschine Licht eingeschaltet. Es handelt sich offenbar um eine Sicherheitsvorkehrung, denn Dutzende Male haben in den vergangenen Wochen die Kampfverbände aus der Provinz Idlib den russischen Militärstützpunkt mit bewaffneten Drohnen angegriffen. Das Abendrot auf dem Mittelmeer, das wogende Schilfrohr, die friedliche Stimmung täuschen. Es herrscht noch immer Krieg in Syrien.
Nachtrag: Für Zivilisten, die den Kriegsschauplatz von Idlib verlassen wollen, hat die syrische Armee mit Hilfe des russischen Zentrums für die Versöhnung der verfeindeten Seiten in Syrien humanitäre Korridore eingerichtet. Durch den Korridor Soran bei Chan Schaichun können Familien in das Gebiet unter Kontrolle der syrischen Regierung gelangen. Bei Abu z-Zuhur, im Osten von Idlib, warten syrische und russische Einheiten, der Syrisch-Arabische Rote Halbmond, ein Fahrzeug der Weltgesundheitsbehörde und syrische Medien seit drei Wochen vergebens.
Als die Autorin Ende September selbst nach Abu z-Zuhur fährt, ist alles ruhig. Es ist gerade Frühstückszeit. Soldaten und Offiziere versammeln sich in einem Zelt. "Sie müssen mit uns frühstücken", sagen sie freundlich und schieben einen Hocker für die Autorin an den Frühstückstisch. "Heute gibt es ein syrisch-russisch-deutsches Frühstück", scherzt einer der Offiziere, und gemeinsam genießen alle Teigtaschen und Saft.
"Die Terroristen haben die Verbindungsstraße nach Abu z-Zuhur zugeschüttet", sagt später ein syrischer Offizier, der seinen Namen nicht nennen möchte. "Durch lokale Komitees, die Namenslisten aufgestellt haben, wissen wir, dass Tausende dort warten, um hierher zu kommen. Sie werden von den Terroristen gehindert und bedroht." Manche seien festgenommen worden.
Der russische Offizier entschuldigt sich höflich in deutscher Sprache mit Hilfe einer Übersetzung, die er von seinem Handy abliest: "Liebe Frau Leukefeld, leider kann ich Ihre Fragen nicht beantworten", sagt er langsam. Er habe um Genehmigung bei seinem Vorgesetzten gebeten, diese aber nicht erhalten, fügt ein Übersetzer hinzu. Das russische Versöhnungszentrum hat seit 2015 unermüdlich an allen Fronten vermittelt. Vielleicht ist der Erfolg so groß, gerade weil es den Medien gegenüber immer Distanz hält. Die Tüten mit Babynahrung, versehen mit dem Emblem des russischen Versöhnungszentrums, stehen ordentlich gestapelt auf einem Tisch am Straßenrand. Doch niemand kommt, um sie in Empfang zu nehmen.
RT Deutsch bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.
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