In Fortsetzung unserer kleinen Libyen-Chronik, deren letzter Stand darin bestand, dass die EU jeglichen Einfluss in Libyen nur durch Putin bekommen kann.
Am 19. Januar wird in Berlin eine Libyen-Konferenz organisiert, auf der die EU ihren Weg nach Libyen finden will. Die UN soll einbezogen werden und alle Konfliktparteien. Großes Ding also.
Alle bereiten sich vor.
Die Türkei schickt zwei Wochen zuvor eigene Truppen nach Libyen, um die offizielle Regierung gegen General Haftar zu unterstützen.
Am 8. Januar trifft sich Putin mit Erdogan. In der gemeinsamen Erklärung geht es auch um Libyen. Man begrüße den “Berliner Prozess” und wolle dazu beitragen. Außerdem treten die beiden Präsidenten mit einer Initiative vor und rufen die libyschen Konfliktparteien zu einem Waffenstillstand ab dem 12. Januar auf.
Am 10. Januar hat Putin ein Telefongespräch mit Ägyptens Präsident Al-Sisi. Es geht um Libyen.
Am 11. Januar hat Putin ein Telefongespräch mit Mohamed bin Zayed bin Sultan Al-Nahyan, dem Kronprinzen und Oberbefehlshaber der Vereinigten Arabischen Emirate. Es geht um Libyen.
Am 11. Januar hat Putin ein Telefongespräch mit Tamim bin Hamad Al Thani, dem Scheich von Katar. Es geht um Libyen.
Am 11. Januar bekommt Putin Besuch von Kanzlerin Merkel. Es geht um Libyen. Merkel will sich Putins Unterstützung für die anstehende Konferenz sichern. Auf der Pressekonferenz nennt Putin Haftar nicht General, sondern “Marschall”. Natürlich begrüßt Putin die Konferenz in Berlin. Aber:
Damit die Berliner Konferenz gewichtige Resultate erzielen kann, ist es notwendig, die Teilnahme der wirklich an einer Hilfe zur libyschen Beilegung des Konflikts interessierter Staaten zu ermöglichen, und am wichtigsten – die Entscheidungen [der Konferenz] müssen vorab mit den libyschen Konfliktparteien abgestimmt werden.
Übersetzung von mir.
Putin hat erklärt, was Merkel zu tun hat, wenn die Konferenz irgendeinen Erfolg haben soll. Später in der Pressekonferenz sagt Putin, dass hinsichtlich der Vorbereitung der Berliner Konferenz noch einiges nachzuarbeiten ist.
Am 11. Januar hat Putin ein Telefongespräch mit Erdogan. Es geht um Libyen. Putin informiert Erdogan über die Ergebnisse des Treffens mit Merkel.
Am 12. Januar hat Putin ein Telefongespräch mit Macron. Es geht um Libyen.
Am 12. Januar hat Putin ein Telefongespräch mit Italien Premierminister Conte. Es geht um Libyen.
Am 13. Januar finden in Moskau Libyen-Verhandlungen mit Beteiligung der Türkei und der libyschen Konfliktparteien statt. Auch Haftar ist dort.
Am 13. Januar hat Putin ein Telefongespräch mit Indiens Preminister Modi. Es geht unter anderem um Libyen.
Am 13. Januar hat Putin ein Telefongespräch mit Merkel. Es geht um Libyen. Putin informiert Merkel über die Ergebnisse der Moskauer Libyen-Verhandlungen.
Am 16. Januar hat Putin ein Telefongespräch mit Charles Michel, dem Präsidenten des Europäischen Rates. Es geht um Libyen und die anstehende Berliner Konferenz.
Am 17. Januar wird bekanntgegeben, dass Putin an der Berliner Konferenz teilnehmen wird.
Am 17. Januar veröffentlicht Putin den vollen Textlaut eines Briefes, den er von Haftar bekommen hat (Haftar wird als Marschall der Libyschen Nationalen Armee genannt):
Sehr geehrter Herr Präsident der Russischen Föderation W. W. Putin, mein teurer Freund!
Nehmen Sie meine persönliche Dankbarkeit und Erkenntlichkeit entgegen, für die Bemühungen der Russischen Förderation zur Herstellung des Friedens und der Stabilität in Libyen.
Ich danke Ihnen und spreche meine volle Unterstützung für die russische Initiative zur Durchführung von Friedensverhandlungen in Moskau, die zu Frieden in Libyen führen sollen, zu. Ich bestätige, dass wir bereit sind, Ihre Einladung in die Russische Förderation zur Weiterführung des begonnenen Dialogs anzunehmen.
Nehmen Sie unsere tiefe Erkenntlichkeit und Wertschätzung entgegen.
Übersetzung von mir.
Solche Briefe werden normalerweise nie veröffentlicht. Was soll dieses Theater? Haftar erklärt darin, wen er als Schutzherren akzeptiert und unter wessen Schirmherrschaft er zu Verhandlungen bereit ist. Aus dem Brief geht auch hervor, dass neue Libyen-Gespräche in Moskau bereits angeraumt sind. Putin veröffentlicht diese Information ganz unschuldig zwei Tage vor der Ausrichtung der Berliner Konferenz…
Am 17. Januar hat Putin ein Telefongespräch mit Merkel. Es geht um “verschiedene Aspekte” der anstehenden Berliner Konferenz.
Natürlich hat auch die EU sich vorbereitet. Italiens Außenminister Di Maio gibt in einem Interview Einblicke. Aus Sicht von Di Maio sieht die Lage in Libyen so aus: Das Problem ist, dass ein Stellvertreterkrieg tobt. Die EU ist darin zu wenig involviert, weil sie sich geweigert hat, die involvierten Kräfte vor Ort mit Waffen zu versorgen. Die EU hat keine Kontrolle über Libyen. Was die EU jetzt will: Schluss mit Lieferungen von Waffen und Söldnern nach Libyen. Darauf sollen sich die Stellverterter-Mächte in Berlin einlassen. Die EU soll dann im Rahmen einer Friedensmission mit Truppen vor Ort die Einhaltung dieser Vereinbarung einhalten – durch Kontrolle von Häfen, Flughäfen, Grenzen usw.
Lesen Sie sich das Interview durch und vergleichen Sie das mit unserem Gedankenspiel aus dem Jahr 2016:
In Nordafrika ist Libyen der beste Kandidat. Libyen, das von der EU selbst zerstört wurde, ist ein herrliches Territorium, um die neue EU-Armee trainieren zu lassen. Da herrscht Chaos, dieses Chaos schadet der EU, in Libyen hat sich keine geopolitische Großmacht militärisch breit gemacht, Libyen ist nah dran an der EU. Wenn wir im Strategiestab der EU-Armee sind, sieht Libyen wie eine Schatzkiste für uns aus. Eine perfekte Spielwiese. Moralisch leicht zu legitimieren. Geeignet, um See-, Luft- und Bodenstreitkräfte im Verbund an einem ungefährlichen Feind üben zu lassen. Wir (die EU) werden wohl im Laufe des kommenden Jahrzehnts die Demokratie nach Libyen bringen müssen.
Exakt so will es die EU haben, wie uns Italiens Außenminister darlegt: “(…) europäische Blauhelme, die mit einer Mission zu Wasser, zu Lande und zu Luft (…)” Frieden nach Libyen bringen.
Es gibt einen winzig kleinen Hacken an der Sache. Im Planspiel der EU aus dem Jahr 2016 war keine geopolitische Großmacht vorgesehen, die sich in Libyen militärisch breitgemacht hat. Genau diese Bedingung ist nicht erfüllt. Russland, die größte geopolitische Großmacht des Jahres 2020 und der nahen Zukunft, hat sich mit Marschall Haftar in Libyen breitgemacht. Die EU kann natürlich gerne wollen, dass Putin Haftar rauszieht und die EU-Armee reinlässt. Nur… warum sollte Putin das wollen?
Was kann die EU Russland anbieten, damit Putin den Weg freimacht für das 2016 gezeichnete Szenario der libyschen Spielwiese für die frische EU-Armee? Eine eurasische Sicherheitsarchitektur, in der die EU unter den russischen strategischen Schutzschirm wechselt. Das wäre es wert. Für beide Seiten. Es läuft ohnehin darauf hinaus, aber man muss irgendwelche Anlässe und Ankerpunkte finden, um diese Entwicklung konkret voranzutreiben. Libyen und die dort geschaffene Situation eignet sich ganz hervorragend als Anlass. Das ist der tiefe strategische Kontext, der auf der Berliner Konferenz ausgelootet werden könnte.
eine schreckliche prognose
was aus libyen auf westeuropa zu kommt...
Es wird eine Zeit kommen, in der dschihadistische Armeen das Mittelmeer überqueren werden; die italienischen Inseln (insbesondere Lampedusa) und Malta sind etwa 500 Seemeilen entfernt. Die 6. US-Flotte wird sofort eingreifen, um sie im Rahmen der Verträge über den Nordatlantik und Maastricht abzuwehren, aber das Chaos wird sich unweigerlich auf Westeuropa ausbreiten. Die Europäer, die die libysch-arabische Dschamahirija gestürzt haben, werden dann darüber nur mehr Tränen vergießen können.
Die Ankunft neuer Waffen und neuer Kämpfer in Libyen läutet einen neuen Krieg gegen die Bevölkerung ein. In Wirklichkeit hat sich die Lage seit dem NATO-Angriff, im Einklang mit der Rumsfeld/Cebrowski-Strategie eines endlosen Krieges, nie beruhigt. Mit der Einleitung einer weiteren Etappe werden die Protagonisten jedoch nichts lösen, sondern nur die Konfliktzone erweitern.
- Präsident Fayez Al-Sarradsch bei der Vorbereitung des türkischen Interventionsplans mit seinem Verteidigungsminister, Brigadegeneral Salah Al-Namrush.
Alle sind sich einig, dass die derzeitige dramatische Lage in Libyen und in der Sahelzone das Ergebnis der illegalen Intervention der NATO im Jahr 2011 ist. Doch nur wenige haben diesen Zeitraum genau angesehen und versucht zu verstehen, wie man zu diesem Punkt kam. Mangels Überlegung, steuert man also auf eine neue Katastrophe zu.
Es ist wichtig, einige Fakten im Auge zu behalten, die immer wieder vergessen werden:
Die libysche arabische Dschamahirija, die durch einen nahezu unblutigen Staatsstreich geschaffen wurde, war keine Machtergreifung eines neurotischen Diktators, sondern ein Werk der nationalen Befreiung vom britischen Imperialismus. Sie war auch der Ausdruck eines Modernisierungswillens, der in der Abschaffung der Sklaverei und einem Aussöhnungsversuch zwischen der arabischen und schwarzen Bevölkerung Afrikas bestand.
Die libysche Gesellschaft ist in Stämmen organisiert. Es ist daher unmöglich, nach dem Stand der Dinge Demokratie zu etablieren. Muammer Gaddafi hatte die libysch-arabische Dschamahirija nach dem Vorbild der Lebensgemeinschaften organisiert, wie die französischen utopischen Sozialisten des 19. Jahrhunderts sie sich vorstellten. Dies lief auf die Schaffung eines lokalen demokratischen Lebens hinaus, aber führte zur Aufgabe dieses Ideals auf nationaler Ebene. Darüber hinaus starb die Dschamahirija daran, keine Bündnispolitik gehabt zu haben und daher nicht fähig gewesen zu sein, sich zu verteidigen.
Die Koalition, die Libyen angegriffen hat, wurde von den USA angeführt, die während des gesamten Konflikts ihr wahres Ziel gegenüber ihren Verbündeten verschleiert haben und sie vor vollendete Tatsachen gestellt haben (leading from behind). Nachdem sie monatelang behauptet hatten, es käme absolut nicht in Frage, die NATO intervenieren zu lassen, war es jedoch genau diese Struktur, die die Operationen kommandierte. Washington hat nie versucht, Zivilisten zu schützen oder dort eine hörige Regierung einzusetzen, sondern eher Rivalen zu installieren und den Frieden mit allen Mitteln zu verhindern (Rumsfeld/Cebrowski-Doktrin).
Es hat nie eine Volksrevolution gegen die Dschamahirija gegeben, wohl aber den Eingriff von Al Kaida am Boden, die Wiederbelebung der Spaltung zwischen Kyrenaika und Tripolitanien und die von der NATO koordinierte Intervention (die Alliierten in der Luft, der Misrata-Stamm in der Gesellschaft und die Katarischen Spezialeinheiten am Boden).
Daher spiegelt die Rivalität zwischen den Regierungen von Tripolis und Bengasi die Teilung des Landes vor 1951 in zwei getrennte Staaten wider, Tripolitanien und Kyrenaika, und dann auf die Wiederbelebung dieser Spaltung durch die NATO-Aggression. Im Gegensatz zu der spontanen Reaktion geht es heute nicht darum, den Frieden wiederherzustellen, um eine Seite gegen die andere zu unterstützen, sondern vielmehr darum, beide Seiten gegen die Feinde des Landes zu vereinen.
Derzeit wird die Regierung in Tripolis von den Vereinten Nationen, der Türkei und Katar unterstützt, während die Regierung in Bengasi von Ägypten, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Saudi-Arabien, Frankreich und Russland unterstützt wird. Die Vereinigten Staaten, getreu ihrer Strategie, sind das einzige Land, das beide Seiten gleichzeitig unterstützt, damit sie sich ohne Ende gegenseitig töten.
- Resolution der Großen Türkischen Nationalversammlung, die die Entsendung von Truppen nach Libyen genehmigt.
Das Prinzip einer türkischen Militärintervention wurde am 2. Januar 2020 von der Großen Nationalversammlung in Ankara angenommen. Es kann auf drei Arten interpretiert werden, die sich ergänzen:
Die Türkei unterstützt die regierende Muslimbruderschaft in Tripolis. Dies erklärt die Unterstützung Katars (das pro-Bruderschaft ist) dieser Regierung und die Opposition Ägyptens, der Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabiens.
Die Türkei entwickelt ihre regionalen Ambitionen, indem sie sich auf die Nachkommen der ehemaligen osmanischen Soldaten von Misrata stützt. Deshalb unterstützt sie die Regierung in Tripolis, nachdem der Misrata-Stamm 2011 die Hauptstadt erobert hatte.
Die Türkei benutzt die Dschihadisten, die sie in Idlib (Syrien) nicht mehr beschützen kann. Deshalb überträgt sie sie nach Tripolitanien und wird dann Bengasi angreifen.
Die türkische Intervention ist laut dem Völkerrecht zulässig und beruht auf dem Ersuchen der Regierung von Tripolis, das am 17. Dezember 2015 durch das Skhirat-Abkommen (Marokko) und die Resolution 2259 vom 23. Dezember 2015 legalisiert wurde. Alle anderen ausländischen Interventionen sind dagegen illegal. Und das auch, obwohl die Regierung in Tripolis aus der Muslimbruderschaft, Al-Kaida und Daesch besteht. Infolgedessen gibt es eine Rollenumkehr, mit Progressiven jetzt im Osten des Landes und Fanatikern im Westen.
Derzeit gibt es nur wenige türkische Soldaten auf der Seite der Tripolis-Regierung, aber ägyptische, emiratische, französische und russische Soldaten auf der Seite von Bengasi. Die Ankündigung des offiziellen Einsatzes einiger weiterer türkischer Soldaten wird dieses Gleichgewicht nicht wesentlich ändern, aber die Verlegung von Dschihadisten kann Hunderttausende Kämpfer betreffen. Sie kann die Lage vollkommen verändern.
Es sei daran erinnert, dass es entgegen dem westlichen Narrativ die libyschen Kämpfer von Al-Kaida und nicht die syrischen Deserteure waren, die zu Beginn des Krieges gegen Syrien die Freie Syrische Armee gründeten. Die Rückreise dieser Kämpfer ist vorhersehbar.
Nur die turkmenischen syrischen Milizen und die Levante-Legion (Faylaq al-Sham) haben sich in Bewegung gesetzt, d.h. etwa 5000 Kämpfer. Wenn diese Migration über Tunesien anhält, könnte sie mehrere Jahre dauern, bis zur vollständigen Befreiung des Gouvernorats Idlib. Das wäre eine ausgezeichnete Nachricht für Syrien, aber eine Katastrophe für Libyen im Besonderen und für die Sahelzone im Allgemeinen.
Man würde dann die gleiche Situation in Libyen wie in Syrien finden: die von der Türkei unterstützten Dschihadisten gegen die von Russland unterstützten lokalen Bevölkerungen; die beiden Mächte vermeiden daher sorgfältig eine direkte Konfrontation, solange die Türkei Mitglied der NATO ist.
Mit dem Einzug nach Tripolis kontrolliert die Türkei nun den zweiten Zustrom von Migranten in die Europäische Union. Sie wird daher in der Lage sein, die Erpressung, die sie gegenüber Brüssel ausübt, mit ihrem eigenen Strom aus der Türkei zu verstärken.
In Ermangelung natürlicher Grenzen werden die dschihadistischen Armeen auch in die Wüste überlaufen, von Libyen bis zur gesamten Sahelzone. Sie werden die G5-Sahel-Länder (Mauretanien, Mali, Burkina Faso, Niger und Tschad) noch stärker von den französischen Anti-Terror-Kräften und dem AfriCom abhängig machen. Sie werden Algerien bedrohen, aber nicht Tunesien, das sich bereits in den Händen der Muslimbruderschaft befindet und das den Transit der Dschihadisten in Djerba verwaltet.
Die sunnitische Bevölkerung der Sahelzone wird dann unter sich sein und die Christen in der Sahelzone werden ebenso vertrieben wie die Christen des Orients.
Es wird eine Zeit kommen, in der dschihadistische Armeen das Mittelmeer überqueren werden; die italienischen Inseln (insbesondere Lampedusa) und Malta sind etwa 500 Seemeilen entfernt. Die 6. US-Flotte wird sofort eingreifen, um sie im Rahmen der Verträge über den Nordatlantik und Maastricht abzuwehren, aber das Chaos wird sich unweigerlich auf Westeuropa ausbreiten. Die Europäer, die die libysch-arabische Dschamahirija gestürzt haben, werden dann darüber nur mehr Tränen vergießen können.