Die Sezession der “Eliten”
oder wie die Demokratie gerade abgeschafft wird
Figarovox/Tribune – Autorin Coralie Delaume analysiert die Gründe für den Bruch, den sie beobachtet zwischen den “Eliten” – einer winzigen Minderheit von Privilegierten – und der grossen Masse, die keinen Zugang hat zu prestigeträchtigen Studiengängen und nicht mitreden kann bei der Ausgestaltung der wirtschaftlichen Richtungsvorgaben der EU.
20. April 2018 – Le Figaro, von Coralie Delaume, Essayisting, Co-Autorin von “La fin de l’Union européenne” [1] und Animatorin von “L’arène nue”.
© Übersetzung: Ruth Frei & Roger Burkhardt – Weiterverbreitung unter Nennung von Autoren und Quelle erlaubt
Die Revolte der Eliten und der Verrat an der Demokratie ist der Titel eines Buches des amerikanischen Soziologen Christopher Lasch, 1995 posthum publiziert. [2] Gewiss, das Werk analysiert das Amerika seiner Zeit. Dennoch lässt es sich perfekt anwenden auf das Frankreich und das Europa von heute. Der Autor scheint die Entwicklung privilegierter Klassen mit visionärer Genauigkeit antizipiert zu haben.
Das Buch stellt die Hypothese auf, dass es nicht mehr die “Revolte der Massen” ist, die in Zukunft das demokratische Leben bedroht, sondern die immer ausgeprägterer Kluft zwischen dem Volk und den “Eliten”. Eine Kluft, die sowohl ökonomisch und materiell als auch bildungsmässig und intellektuell wächst, was zur Abschottung der Privilegierten führt. Diese sprechen nur noch mit ihresgleichen, das heisst mit jenen, die das gleiche Mass an Reichtum geniessen und in gleicher Weise mit jenen, die dasselbe Bildungsniveau haben. Sie lieben es, ihre Macht in Szene zu setzen und tun dies in tausendfacher Weise: durch das zur Schau stellen äusserer Zeichen des Reichtums, gewiss, aber mehr und mehr auch durch ihre kulturelles Erbe. Die Rede von Präsident Macron über die Künstliche Intelligenz (29. März 2018) [3] – verblüffend durch ihren pedantisch anmutenden Detailreichtum – ist dafür ein Beispiel, das ans Groteske grenzt. Im Gegenzug nehmen die “Eliten” nur noch widerwillig die Pflichten und Verantwortlichkeiten wahr, die ihnen obliegen. Stattdessen dienen sie lieber ihren wohlverstandenen Eigeninteressen als dem Interesse der Allgemeinheit, von dem sie sich nicht einmal mehr vorstellen, dass es existieren könnte.
20 Jahre nach Lasch ist das Phänomen des elitären Separatismus, das er in seinem Land aufkommen sah, zum Thema einer numerischen Studie geworden, diesmal für Frankreich. Jérôme Fourquet hat – finanziert von der Fondation Jean Jaurès – eine Note mit aussagekräftigem Titel publiziert: “1985-2017 – als die privilegierten Klassen sich abgespalten haben” [4] (1985-2017, quand les classes favorisées ont fait sécession). Er erklärt insbesondere, dass der Zusammenhalt der französischen Gesellschaft durch einen Prozess beeinträchtigt wird, der für das blosse Auge fast unsichtbar ist, aber nichts desto trotz mit schwerwiegenden Konsequenzen verbunden ist: Ein sozialer Separatismus, der einen grossen Teil der obersten Schicht der Gesellschaft betrifft. Dabei werden die Möglichkeiten für Kontakte und Interaktionen zwischen den obersten Kategorien und dem Rest der Bevölkerung in Wirklichkeit immer weniger.”
Der Niedergang des nationalstaatlichen Gefüges ermöglicht den “Eliten” mehr und mehr, in einer Art alternativen Welt zu leben.
Der Forscher stellt fest, dass das Zentrum der grossen Städte heute über Investitionen im grossen Stil von Kaderleuten beherrscht wird. Gewisse urbane Zentren halten ihnen sogar den Raum frei für zukünftige goldene Ghettos. So sind die privilegierten oberen soziokulturellen Klassen (CSP+) innert 30 Jahren von 25 % auf 46 % der Pariser Bevölkerung gewachsen. Der Anteil der Arbeiter ist im selben Zeitraum von 18 % auf 7 % geschrumpft.
Jérôme Fourquet analysiert dann die Ablehung der öffentlichen Schulbildung zugunsten einer massiven Zunahme von Privatschulen für die Kinder von Kaderleuten, ferner den Wähler-Separatismus der Vermögendsten und – in den extremen Fällen – das steuerliche Exil. Dieses signalisiert die Weigerung eines Teils der Bevölkerung, das Funktionieren des gesamten Kollektivs mitzufinanzieren.
In den Augen des Autors der Studie sind wir konfrontiert mit “der Verselbstständigung eines Teils der Meistprivilegierten, die sich durch ihr gemeinsames Geschick immer weniger mit dem übrigen nationalen Kollektiv verbunden fühlen”. Man sieht tatsächlich, wie sehr das Phänomen mit dem Niedergang des nationalstaatlichen Gefüges verknüpft ist – ein Niedergang, der den “Eliten” erlaubt, immer mehr abgehoben in einer Art alternativer Welt zu leben, währenddessen alle anderen in einem Diesseits gefangen sind, das sich zunehmend in Brachland verwandelt und als Dschungel enden wird.
Fourquet ist nicht der erste, der dies feststellt. Auch der Anthropologe Emmanuel Todd tat dies gleichermassen und bietet in seinem letzten Werk “Wo stehen wir?” (Où en sommes-nous?) [5] eine überzeugende Erklärung. Für ihn ist der Bruch in der Bildung die Hauptursache: Die Entwicklung der höheren Bildung zeitigte eine unerwartete und perverse Wirkung dadurch, dass sie die Gesellschaft in zwei Kategorien von Menschen zerschnitt: in die höher Gebildeten und alle anderen. Hatte die generelle Verbreitung der primären und sekundären Schulbildung einst dazu beigetragen, das allgemeine Bildungsniveau auszugleichen und die Ausbreitung der Demokratie zu begünstigen, so unterstützen wir heute das Gegenteil. Der Grund dafür ist einfach: Die höhere Bildung hat sich (noch?) nicht allgemein verbreitet. “Der allgemeine Zugang zur Primarschule und dann zur Sekundarschule hat ein soziales Unterbewusstsein der Gleichheit genährt. Die Plafonierung der höheren Bildung hat ein soziales Unterbewusstsein der Ungleichheit geschaffen,” schreibt der Forscher.
Die Auswirkungen dieses Unterbewusstseins der Ungleichheit sind täglich wahrnehmbar. Man stellt fest, dass sich diese höher Gebildeten in ihrer Selbstzufriedenheit kaum mehr unter andere mischen – befremdlicherweise darin überzeugt, nichts und niemandem etwas zu schulden ausser ihrem eigenen Talent. Sie sind jedenfalls zahlreich genug, um im geschlossenen Schaltkreis zu funktionieren und sich nur noch an andere “Symbol-Manipulatoren” wenden zu müssen – wie der Ökonom Robert Reich die Gewinner der Globalisierung qualifizierte – an diese Diplomierten, Mehrsprachigen, Mobilen – die heimisch sind in der Domäne der Kommunikation, wo die öffentliche Meinung gebildet wird. Denn sie sind es, die – wie selbstverständlich – die Presse kontrollieren und in die Mikrophone sprechen. Sie lassen uns teilhaben an ihrer eigenen Art, die Masse jener zu erfassen, “die niemand sind” wie Macron sagen würde – oder anders gesagt: die Menschen, die nicht so sind wie sie. Sie porträtieren diese als zögerlich, fortschrittsfeindlich, auf primitive und irrationale Art feindselig gegenüber Reformen sowie jeglicher Art von Veränderung. Die “Eliten” erklären uns, dass wenn diese Leute “populistisch” wählen, sie dies täten, weil sie fremdenfeindlich seien, und wenn sie bei Referenden “falsch” abstimmen, so deshalb, weil sie die Fragen nicht verstehen.
Sollte uns diese Aufspaltung der Gesellschaft vielleicht dazu bringen, die Konturen der gesellschaftlichen Klassen neu zu überdenken? Wenn diese noch existieren (was offensichtlich zutrifft) ist die Sezession der “Eliten” nicht nur eine Realität für “Reiche” und die Eigentümer der Produktionsmittel. Sie existiert ebenso sehr für die Eigentümer eines Bildungs- und Kulturkapitals, das sich immer mehr anderswo weiter vererbt, aufgrund des Niedergangs der öffentlichen Schule und des enormen Kaufkraftverlusts der Franzosen, nach der Übernahme der französischen Supermarktkette “Mammouth”. (Nach dem Verkauf der Kette an Auchan stiegen die Preise der Grossverteiler landesweit stark an, A.d.Ü.)
Die Verarmung betrifft die Gesamtheit des Staatsapparates und der öffentlichen Dienste, wobei letztere das “Unrecht” begehen, gleiches Recht für alle zu repräsentieren, was den elitären Separatismus behindert.
Um die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der EU-Staaten zu “harmonisieren” (nach unten auszugleichen), haben die EU-Mitgliedsländer einen genialen und weltweit einzigartigen Vorwand erfunden: Die Verpflichtung, die EU-Konvergenzkriterien des Maastrichter Vertrags zu respektieren. Es ist insbsondere die Begrenzung der Haushaltsdefizite auf maximal 3 % des Bruttoinlandprodukts, in deren Namen die Eliten in den Regierungen der EU-Länder das gesamte kollektive Erbe (die kritische Infrastruktur, A.d.Ü) ruinieren und dann (an ihre eiltären Freunde, A.d.Ü) verkaufen. Das Haushaltsdefizit Frankreichs ist soeben unter die schicksalshafte Grenze gefallen (2,6 % für 2017) – und dies sogar noch bevor das Verscherbeln der staatlichen Eisenbahngesellschaft (SNFC) abgeschlossen ist.
Die gesamte Konstruktion der EU ist für die nationalen “Eliten” ein phantastisches Werkzeug, um sich ihrer Verantwortung zu entziehen.
Die gesamte Konstruktion der EU ist für die nationalen “Eliten” ein phantastisches Werkzeug, um sich ihrer Verantwortung zu entziehen. Das gilt insbesondere für die politischen Eliten, die ihren wahren Pflichten nicht nachkommen, weil sie sich losgesprochen fühlen durch die Legitimation, die ihnen das allgemeine Wahlrecht verschafft.
Die Fähigkeit, grosse Entscheidungen zu treffen, wurde massiv auf eine supranationale Ebene verlagert, die niemandem mehr Rechenschaft ablegt. So legen die Leiter der “Europäischen” Zentralbank (EZB) keine Rechenschaft ab für die (elitenfreundliche A.d.Ü) Geldpolitik, die sie betreiben.
Die EU-Kommission in Brüssel riskiert nicht, mit einem Streik konfrontiert zu werden, wenn sie sich im Rahmen des “Europäischen Semesters für die Steuerung der Wirtschaftspolitik” zu stark in die Budgets der EU-Mitgliedstaaten eingemischt hat.
Der EU-Gerichtshof riskiert keinerlei Sanktionen durch die betroffenen Bürger für seine Rechtsprechung zugunsten der wirtschaftlichen Deregulation, die er am Fliessband abliefert.
In jedem Fall hat der EU-Gerichtshof durch seine Urteile aus den 1960er Jahren die EU-Verträge auf eigene Initiative “konstitutionalisiert” (zur Verfassung erklärt). So hat er diese Verträge mit allen enthaltenen Elementen der Wirtschaftspolitik über die Gesetze in der Normen-Hierarchie der Mitgliedstaaten gestellt. Das bedeutet: Sie existieren ausserhalb der Kompetenz der Parlamente und damit der Wähler.
Die Art und Weise, wie die EU organisiert ist, hat zur Folge, dass die Wahlen auf nationaler Ebene und die Entscheidungskompetenzen auf supranationaler Ebene völlig voneinander entkoppelt sind. Dies macht aus der EU eine eigentliche Vakuumpumpe (machine de défilement – die Politiker und Volkseigentum von unten nach befördert, AdÜ) im Dienste der politischen “Eliten”, die alle Brücken zu ihren Heimatländern abgebrochen haben. Sie gleichen somit vielmehr einer Oligarchie als einer echten Elite. Im übrigen bietet die EU vielfältige Möglichkeiten der Steuervermeidung dank ihrer integrierten Steuerparadiese (Irland, Luxemburg…).
Schliesslich tragen die freie Zirkulation von Kapital und Arbeit im gemeinsamen EU-Markt dazu bei, diese beiden miteinander in Konkurrenz zu setzen zugunsten des Profits des mobilsten und schnellsten – also des Kapitals – und zum Schaden des sesshaftesten – also der Arbeit. Dies alles zur grossen Freude der Eigentümer.
In diesem Zusammenhang ist es nicht erstaunlich, dass ein auf europäische Fragen spezialisierter Politikwissenschaftler wie der Bulgare Ivan Krastev, viele Seiten seines letzten Werkes “Le destin de l’Europe” [6] (Europadämmerung [7], After Europe [8]) der Beschreibung des Phänomens “Sezession der herrschenden Klassen auf kontinentaler Ebene” widmet. Darin schreibt er: “Die traditionellen aristokratischen Eliten hatten Pflichten und Verantwortlichkeiten – und ihre Ausbildung bereitete sie angemessen darauf vor. Im Vergleich hierzu werden die neuen Eliten zum Regieren ausgebildet und sind zu allem ausser zu Opfern bereit.” Nicht einmal zu finanziellen Opfern, hätte er anfügen können. Auf jeden Fall immer weniger, da ja Steueroptimierung zu einer der beliebtesten Sportarten unserer Zeit geworden ist. Krastev fährt fort: “Die Natur und die Konvertibilität (Wandelbarkeit) der Befugnisse der neuen Eliten macht sie ganz konkret unabhängig von ihrer eigenen Nation. Sie sind weder abhängig von den nationalen Erziehungs- und Bildungssystemen (denn ihre Kinder studieren in den besten privaten Instituten), noch von den staatlichen Sozialversicherungen und -werken (sie können sich die besten Privatkliniken leisten). Sie haben die Fähigkeit verloren, die Leidenschaften und Emotionen ihrer Gemeinschaft zu teilen.”
Indem wir die Nationen hinter uns lassen und die Nationalstaaten zerstören, schaffen wir auch die Demokratie ab.
Von da her entspräche der Aufstieg dessen, was man “die Populismen” nennt, vor allem einer Suche nach Loyalität. Ferner ist der Diskurs über “Souveränität” und “Anti-Globalisierung” der genannten “Populisten” wahrscheinlich einer der Schlüssel ihres Erfolges. Er entspricht einem immer grösser werdenden Bedürfnis der Völker, ihre herrschenden Klassen wieder zu repatriieren (in die Heimat zurückzuholen), damit sie sich nicht länger absetzen (aus der Verantwortung stehlen). Dies, damit man von den Eliten wieder einfordern kann, dass sie ihre Pflichten ebenso erfüllen, wie sie von ihren Rechten profitieren – und dass sie der Allgemeinheit wenigstens einen Teil von dem wieder zurückgeben, was sie erhalten haben – also viel, z. B. die Sicherheit an Leib und Leben, an Hab und Gut, ein funktionierendes Gesundheits- und Bildungswesen etc. Schliesslich sind die Repatriierung des politischen Personals sowie die Wiederherstellung der Übereinstimmung von nationalem Mandat mit der tatsächlich praktizierten Politik das einzige Mittel, um die Ausübung einer wirksamen demokratischen Kontrolle wieder zu gewährleisten.
Ob dies möglich ist? Das Mindeste, was man sagen kann ist, dass dieser Weg bis jetzt nicht eingeschlagen wurde. Im Gegenteil: Indem man Tag für Tag die Nationalstaaten abschafft und so zugleich das Staatsgefüge zerstört, ist es die Demokratie selbst, die man abschafft.